Der Historiker
starken Taschenlampe, die Dracula ins Taumeln brachte. Er drehte sich zu spät, ein dunkler Schattenwirbel. Die Lampe folgte ihm, dann hob jemand den Arm und feuerte einmal.
Dracula sprang nicht, wie ich Augenblicke vorher noch geglaubt hatte, über den Sarkophag, um uns anzugreifen, sondern er fiel: erst nach hinten, so dass sein gemeißeltes bleiches Gesicht kurz noch einmal sichtbar wurde, dann nach vorn und weiter nach vorn, bis er mit einem Geräusch brechender Knochen auf dem Steinboden aufschlug. Er krümmte sich und blieb schließlich reglos liegen. Sein Körper schien zu Staub zu zerfallen, zu nichts, selbst seine alten Kleider vergingen um ihn herum, welk im verwirrenden Licht.
Mein Vater ließ meinen Arm los, lief auf die Quelle des Lichtkegels zu und machte dabei einen Bogen um die Masse auf dem Boden. »Helen«, rief er – oder vielleicht weinte er auch ihren Namen oder flüsterte ihn.
Auch Barley drängte voran. Er hatte sich die Laterne meines Vaters gegriffen. Ein schwerer Mann lag auf den Steinfliesen, einen Dolch neben sich. »Oh Elsie«, sagte eine gebrochene englische Stimme. Aus dem Kopf des Mannes rann etwas dunkles Blut, und während wir noch schreckgelähmt dastanden, wurden seine Augen starr.
Barley stürzte sich neben der zerschlagenen Gestalt zu Boden. Überraschung und Trauer schienen ihm die Kehle zuzuschnüren. »Master James?«
79
Das Hotel in Les Bains rühmte sich seines Salons mit Kamin und hoher Decke, aber der maître hatte ihn unnachgiebig vor den anderen Gästen verschlossen. »Ihr Ausflug ins Kloster hat Sie ermüdet«, war alles, was er sagte, und dazu stellte er eine Flasche Cognac vor meinen Vater – mit fünf Gläsern, wie mir auffiel, als wäre unser fehlender Gefährte noch da, um mit uns zu trinken. Aber ich sah an dem Blick, den mein Vater mit ihm wechselte, dass schon weit mehr zwischen ihnen gesagt war.
Der maître hatte den ganzen Abend telefoniert und irgendwie alles mit der Polizei geklärt, die uns nur kurz im Hotel befragte und schließlich unter seinen wohlwollenden Augen entließ. Ich nahm an, dass er sich auch darum gekümmert hatte, die Leichenhalle oder einen Beerdigungsunternehmer anzurufen, wie immer so etwas in einem französischen Ort geregelt wurde. Jetzt, da alle Offiziellen gegangen waren, saß ich neben Helen auf dem unbequemen Damastsofa und versuchte, die Bilder von Master James’ gütigem Gesicht und dem großen, unbeweglichen Körper unter dem Leichentuch aus meinen Gedanken zu verdrängen. Alle paar Minuten strich mir meine Mutter über das Haar, und mein Vater, der uns gegenüber in einem tiefen Sessel beim Feuer saß, konnte den Blick nicht von ihr – von uns – wenden. Barley hatte seine langen Beine auf eine Ottomane gelegt und versuchte, so kam es mir vor, nicht auf den Cognac zu starren, bis mein Vater sich sammelte und uns allen ein Glas einschenkte. Barleys Augen waren rot vom stillen Weinen, aber er schien damit in Ruhe gelassen werden zu wollen. Als ich zu ihm hinübersah, füllten sich auch meine Augen für einen Moment wieder unkontrolliert mit Tränen.
Auch mein Vater sah jetzt Barley an, und ich fürchtete schon, er würde ebenfalls zu weinen beginnen. »Er war sehr mutig«, sagte er stattdessen. »Sie wissen, dass sein Angriff es Helen erst ermöglicht hat, so zu schießen. Sie wäre nicht in der Lage gewesen, ihn ins Herz zu treffen, wäre dieses Ungeheuer nicht abgelenkt gewesen. Ich glaube, James muss in den letzten Augenblicken noch begriffen haben, was er geleistet hat. Er hat Rache geübt für den Menschen, den er am meisten geliebt hat – und für viele andere.« Barley nickte, immer noch unfähig zu sprechen, und so schwiegen wir alle für eine Weile.
»Ich habe versprochen, euch alles zu erklären, wenn wir eine ruhige Minute hätten«, sagte Helen endlich und stellte ihr Glas auf den Tisch.
»Sind Sie sicher, dass ich nicht besser gehen soll?«, fragte Barley widerstrebend.
Helen lachte, und mich überraschte die Melodie ihres Lachens, die sich so sehr von der ihrer Sprechstimme unterschied. Selbst in diesem Raum voller Trauer wirkte ihr Lachen nicht fehl am Platz. »Nein, nein, mein Lieber«, sagte sie zu Barley. »Ohne Sie geht es nicht.« Ich liebte ihren Akzent, ihr harsches und doch liebevolles Englisch, das mir so vertraut war, als hätte ich es immer schon gehört. Helen war groß und hager und trug ein schwarzes Kleid, das etwas altmodisch wirkte, und einen ergrauenden Zopf, den
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