Der Historiker
sie sich um den Kopf gewunden hatte. Ihr Gesicht wirkte erschöpft, aber ihre Augen waren voll jugendlicher Kraft. Ihr Anblick erschreckte mich jedes Mal, wenn ich mich ihr zuwandte – nicht nur, weil sie tatsächlich da und wirklich war, sondern auch, weil ich mir immer nur die junge Helen vorgestellt hatte. Ich hatte bei meinem Bild von ihr nie all die Jahre mit eingerechnet, die sie von uns getrennt gewesen war.
»Alles zu erzählen, wird eine lange Zeit in Anspruch nehmen«, sagte sie sanft, »aber ein paar Dinge sollte ich heute Abend schon sagen. Zuerst, dass es mir Leid tut. Ich habe dir so große Schmerzen bereitet, Paul, ich weiß.« Sie sah zu meinem Vater hinüber. Barley rutschte verlegen hin und her, aber sie beruhigte ihn mit einer Geste. »Mir selbst habe ich damit noch größeren Schmerz zugefügt. Zum Zweiten hätte ich es dir schon früher sagen sollen, aber nun können unsere Tochter… « – ihr Lächeln war süß und Tränen glitzerten in ihren Augen –, »unsere Tochter und unsere Freunde meine Zeugen sein. Ich lebe und bin keine Untote. Er hat mich nie ein drittes Mal berührt.«
Ich wollte meinen Vater ansehen, vermochte aber den Kopf nicht zu ihm zu wenden. Es war sein ganz persönlicher Augenblick.
Sie hielt inne und schien tief Luft zu holen. »Paul, als wir in Saint-Matthieu waren und ich von ihren Traditionen erfuhr – vom Abt, der von den Toten auferstanden war, und von Bruder Kyrill, der ihn bewachte –, war ich verzweifelt und schrecklich neugierig. Ich spürte, es konnte kein Zufall sein, dass ich gerade diesen Ort hatte sehen wollen, ja, mich nach ihm gesehnt hatte. Bevor wir nach Frankreich reisten, hatte ich, ohne es dir zu sagen, Paul, in New York verschiedene Nachforschungen angestellt, weil ich hoffte, Draculas zweites Versteck finden und den Tod meines Vaters rächen zu können. Auf Saint-Matthieu war ich dabei jedoch nicht gestoßen. Meine Sehnsucht nach diesem Ort entstand erst, als ich in deinem Reiseführer darüber las. Es war nichts als ein dringendes Verlangen, ohne jede wissenschaftliche Grundlage.«
Sie sah uns alle an, das schöne Profil voller Ernst. »Ich hatte meine Recherchen in New York wieder aufgenommen, weil ich das Gefühl hatte, der Grund für den Tod meines Vaters zu sein – durch meinen Wunsch, ihn in den Schatten zu stellen und seinen Betrug an meiner Mutter aufzudecken. Dieser Gedanke war nicht zu ertragen. Dann wuchs in mir das Gefühl, dass es mein böses Blut war, Draculas Blut, das mich das alles hatte tun lassen, und ich begriff, dass ich dieses Blut an meine Tochter weitergegeben hatte, auch wenn ich selbst vom Biss des Untoten geheilt schien.«
Sie machte eine Pause, um mir über die Wange zu streichen und meine Hand in ihre zu nehmen. Ihre Berührung machte mich zittern, die Nähe dieser fremden, vertrauten Frau, die sich dort auf diesem Sofa gegen meine Schulter lehnte. »Ich kam mir immer unwürdiger vor, und als ich von Bruder Kyrill die Legende von Saint-Matthieu erzählt bekam, wurde mir klar, dass ich nicht zur Ruhe kommen würde, bevor ich nicht noch mehr in Erfahrung brachte. Wenn ich Dracula fände, so meine Überzeugung, ihn fände und auslöschte, dann könnte ich wieder ganz gesund werden, eine gute Mutter und ein Mensch mit einem neuen Leben.
Nachdem du eingeschlafen warst, Paul, ging ich hinaus in den Kreuzgang. Ich hatte überlegt, ob ich mit meiner Pistole noch einmal in die Krypta hinuntergehen und versuchen sollte, den Sarkophag zu öffnen, aber ich dachte, das könnte ich nicht allein schaffen. Und so haderte ich mit mir, ob ich dich wecken und bitten sollte, mir zu helfen, setzte mich auf die Bank an der offenen Seite und sah über den Abgrund hinaus. Ich wusste, ich sollte nicht allein da draußen sein, aber der Ort zog mich magisch an. Das Mondlicht war wunderschön, und Nebel kroch die Bergwände entlang.«
Helens Augen hatten sich merkwürdig geweitet. »Während ich also da saß, spürte ich plötzlich ein Kribbeln auf dem Rücken, als stünde jemand direkt hinter mir. Ich drehte mich um und glaubte auf der anderen Seite des Kreuzgangs, wohin das Mondlicht nicht reichte, eine dunkle Gestalt zu sehen. Ihr Gesicht lag im Schatten, ich konnte es nicht erkennen, und doch spürte ich die brennenden Augen auf mir. Es hätte ihn nur eine Sekunde gekostet, die Flügel auszubreiten und bei mir zu sein; ich war völlig allein. Mich schauderte, und plötzlich glaubte ich Stimmen zu hören, drängende, schmerzende
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