Der Historiker
Stimmen in meinem Kopf, die mir sagten, dass ich Dracula nie überwinden könne, dass diese Welt ihm gehöre und nicht mir. Sie sagten mir, ich solle springen, solange ich noch ich selbst sei, und wie ein Mensch in einem Traum stand ich auf und sprang.«
Sie saß jetzt gerade, aufrecht, und sah ins Feuer, und mein Vater strich sich mit der Hand über das Gesicht. »Frei wollte ich fallen, wie Luzifer, wie ein Engel, aber ich hatte die vorspringenden Felsen nicht gesehen. Ich schlug auf sie auf, und sie schnitten mir in den Kopf und die Arme, aber da war auch ein großes Kissen aus Gras, und der Sturz tötete mich nicht. Nach Stunden, glaube ich, wachte ich auf, um mich die Kälte der Nacht, und spürte das Blut auf meinem Gesicht und dem Hals, sah, wie der Mond unterging, und den Abgrund unter mir. Mein Gott, wenn ich dort hinuntergerollt und nicht ohnmächtig geworden wäre…« Sie hielt kurz inne. »Ich wusste, ich konnte dir nicht erklären, was ich getan hatte, und meine Scham überwältigte mich wie eine Art Wahnsinn. Nie würde ich dich oder unsere Tochter nach alldem wieder verdienen. Als ich es vermochte, stand ich auf und stellte fest, dass ich gar nicht so viel Blut verloren hatte. Auch wenn mir alles wehtat, hatte ich mir doch nichts gebrochen, und ich fühlte auch, dass er nicht über mich gekommen war. Er musste mich verloren gegeben haben, als ich sprang. Ich war fürchterlich schwach, und es fiel mir schwer zu gehen, aber ich lief um die Klostermauern, auf die Straße und hinunter ins Dunkel.«
Mein Vater saß ruhig da, und seine Augen wichen nicht von meiner Mutter.
»Ich zog hinaus in die Welt. Es war gar nicht so schwer. Ich hatte meine kleine Handtasche dabeigehabt, aus purer Gewohnheit, nehme ich an, und weil ich meine Pistole mit den Silberkugeln darin hatte. Ich erinnere mich, dass ich fast in Lachen ausgebrochen wäre, als ich die Handtasche immer noch über meinem Arm fand, dort auf dem Felsvorsprung. Und ich hatte Geld darin, viel Geld, im Futter versteckt. Meine Mutter hatte auch immer all ihr Geld bei sich. Ich denke, so haben es die Bauern bei ihr im Dorf gehalten. Banken hat sie nie vertraut. Ich ging sparsam mit meinem Geld um, und später, als ich mehr brauchte, hob ich etwas von unserem Konto in New York ab und zahlte es auf ein Schweizer Konto ein. Dann verließ ich die Schweiz wieder, so schnell ich konnte. Ich hatte Angst, dass du versuchen würdest, mich aufzuspüren, Paul. Oh, vergib mir!«, rief sie und fasste meine Hand noch fester. Mir war klar, dass sie damit ihr Verschwinden meinte und nicht das Geld.
Mein Vater presste die Hände zusammen. »Die Abhebung hat mir ein paar Monate Hoffnung gegeben, oder zumindest ließ sie mich Spekulationen anstellen – aber die Bank konnte sie nicht verfolgen. Am Ende bekam ich das Geld zurückerstattet.« Aber nicht dich, hätte er noch hinzufügen können, tat es jedoch nicht. Sein Gesicht leuchtete, müde und glücklich.
Helen senkte den Blick. »Jedenfalls fand ich einen Platz weit genug weg von Les Bains, wo meine Verletzungen ausheilen konnten. Ich versteckte mich, bis ich hinaus in die Welt konnte.«
Ihre Finger wanderten zu ihrem Hals, und ich sah die kleine weiße Narbe wieder, die mir schon öfter aufgefallen war. »Tief in mir wusste ich, dass Dracula mich nicht vergessen hatte und mich vielleicht wieder suchen würde. Ich füllte mir die Taschen mit Knoblauch und den Kopf mit Kraft. Meine Pistole hatte ich immer dabei, genau wie meinen Dolch und mein Kruzifix. Wohin ich auch kam, bat ich in den Dorfkirchen um Segen, obwohl manchmal schon der Tritt durch die Tür meine Wunde neu pochen ließ. Ich achtete darauf, dass mein Hals immer bedeckt blieb. Irgendwann ließ ich mir das Haar kurz schneiden und färbte es, änderte meine Garderobe und trug eine dunkle Brille. Lange Zeit hielt ich mich von größeren Städten fern, und erst nach und nach besuchte ich die Archive, die ich immer schon hatte aufsuchen wollen.
Ich war gründlich und fand ihn, wohin ich auch kam – in Rom in den zwanziger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts, im Florenz der Medicis, in Madrid und in Paris zur Zeit der Revolution. Manchmal war es der Bericht über eine merkwürdige Seuche, manchmal ein Ausbruch von Vampirismus auf einem großen Friedhof, dem Pariser Père Lachaise zum Beispiel. Er schien immer eine Vorliebe für Schriftsteller, Archivare und Historiker gehabt zu haben, für alle, die sich über Bücher mit der Vergangenheit beschäftigten.
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