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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Seinen Bewegungen folgend, versuchte ich darauf zu schließen, wo sein neues Grab lag, wohin er gezogen war, nachdem wir ihn in Sveti Georgi aufgestöbert hatten, aber ich konnte kein Muster entdecken. Ich dachte, wenn ich ihn erst entdeckt und vernichtet hätte, würde ich zu euch zurückkehren und euch sagen, wie sicher die Welt geworden sei. Ich würde euch verdienen. Dabei lebte ich in ständiger Angst, dass er mich finden könnte, bevor ich ihn ausfindig machte. Und wohin immer ich fuhr, vermisste ich euch… Oh, ich war so einsam.«
    Wieder nahm sie meine Hand und streichelte sie wie eine Wahrsagerin, und ich spürte gegen meinen Willen Zorn in mir aufsteigen – all diese Jahre ohne sie. »Am Ende dachte ich, selbst wenn ich es nicht wert sei, wollte ich euch zumindest einmal sehen, einen Blick auf euch werfen. Auf euch beide. Ich hatte in der Zeitung von deiner Stiftung gelesen, Paul, und wusste, dass ihr in Amsterdam lebtet. Es war nicht schwer, euch zu finden, in einem Café in der Nähe deines Büros zu sitzen oder euch auf eine eurer Reisen zu folgen… Sehr vorsichtig, sehr, sehr vorsichtig. Ich habe mir nie erlaubt, einen von euch von Angesicht zu Angesicht zu sehen, weil ich Angst hatte, ihr könntet mich erkennen. Ich kam und ging. Wenn meine Arbeit gut voranschritt, gestattete ich mir einen Besuch in Amsterdam und folgte euch von dort aus. Dann eines Tages – in Italien, in Monteperduto – sah ich ihn auf der Piazza. Er folgte und beobachtete euch. Da begriff ich, dass er mittlerweile mächtig genug war, auch bei hellem Tageslicht hinauszugehen. Ich wusste, dass ihr in Gefahr wart, aber ich dachte, wenn ich zu euch ging und euch warnte, könnte ich die Gefahr noch näher bringen. Schließlich konnte es sein, dass er nach mir und nicht nach euch suchte. Ich litt Qualen. Ich wusste, dass du deine Nachforschungen wieder aufgenommen haben musstest – dass du dich wieder für ihn interessiertest, Paul, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich konnte mich nicht entscheiden, was ich tun sollte.«
    »Das war ich… Es war mein Fehler«, murmelte ich und drückte ihre schmucklose, faltige Hand. »Ich hatte das Buch gefunden.«
    Sie legte den Kopf leicht schief und musterte mich. »Du bist eine Historikerin«, sagte sie. Es war keine Frage. Dann seufzte sie. »Viele Jahre lang habe ich dir Postkarten geschrieben, meine Tochter, ohne sie abzuschicken natürlich. Eines Tages aber dachte ich, ich könnte mit euch beiden aus der Distanz kommunizieren, damit ihr wusstet, dass ich am Leben war, ohne mich sonst jemandem zu zeigen. Ich schickte sie nach Amsterdam, in einem Päckchen, das an Paul adressiert war.«
    Jetzt richtete sich mein Staunen und mein Zorn auf meinen Vater. »Ja«, sagte er traurig. »Ich hatte das Gefühl, sie dir nicht zeigen und dich damit verunsichern zu dürfen, ohne deine Mutter für dich finden zu können. Du kannst dir vorstellen, wie es mir in jenen Tagen ging.« Ich konnte. Ich erinnerte mich an seine fürchterliche Müdigkeit in Athen an dem Abend, als ich ihn wie halb tot auf seinen Schreibtisch hatte starren sehen. Aber jetzt lächelte er, und ich begriff, dass ich ihn von nun an vielleicht jeden Tag lächeln sehen würde.
    »Ah.« Helen lächelte ebenfalls. Um ihren Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben, und auch in den Augenwinkeln war die Haut nicht mehr glatt.
    »Also fing ich wieder an, nach dir zu suchen – und nach ihm.« Sein Blick wurde ernst.
    Sie sah ihn an. »Ich begriff, dass ich meine Nachforschungen aufgeben und ihm einfach nur folgen musste, indem ich dir folgte. Ich sah dich manchmal, wie du deine Recherchen anstelltest, beobachtete dich, wenn du in Bibliotheken gingst, Paul, und wieder aus ihnen herauskamst. Und wie ich mir wünschte, dir alles erzählen zu können, was ich selbst herausgefunden hatte. Dann fuhrt ihr nach Oxford. Ich war bei meinen Nachforschungen vorher nicht in Oxford gewesen, obwohl ich gelesen hatte, dass es dort im späten Mittelalter einen Ausbruch von Vampirismus gab. In Oxford ließt du ein Buch offen liegen…«
    »Er machte es zu, als er mich sah«, warf ich ein.
    »Und mich«, sagte Barley mit einem blitzenden Grinsen. Es war das erste Mal, dass er etwas sagte, und ich war erleichtert festzustellen, dass er immer noch froh aussehen konnte.
    »Nun, das erste Mal, als er darin gelesen hatte, vergaß er, es zu schließen.« Helen zwinkerte uns jetzt fast zu.
    »Du hast Recht«, sagte mein Vater. »Jetzt, wo ich darüber nachdenke –

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