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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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weitere. Als ich aufblickte, bemerkte ich, dass sich eine blaue Tiefe hinter den oberen Fenstern aufgetan hatte: Zwielicht. Ich würde allein durch die hereinbrechende Dunkelheit nach Hause gehen müssen, dachte ich wie ein ängstliches Kind. Wieder verspürte ich das Bedürfnis, zu Rossis Tür zu laufen und kräftig anzuklopfen. Sicher würde ich ihn dort finden, wie er die Seiten eines Manuskripts im gelben Licht seiner Schreibtischlampe studierte. Erneut erfüllte mich Ratlosigkeit wie nach dem Tod eines Freundes – die Unwirklichkeit der Situation, die Unmöglichkeit, vor die sie den Verstand stellt. Wobei sich Ratlosigkeit und Angst die Waage hielten, und meine Verwirrung vergrößerte die Furcht noch, weil ich in diesem Zustand mein gewohntes Selbst nicht mehr zu erkennen glaubte.
    Während ich darüber nachdachte, sah ich auf die ordentlichen Papierstapel vor mir. Ich hatte den Großteil des Tisches in Beschlag genommen. Deshalb hatte sich wahrscheinlich niemand zu mir gesetzt. Ich überlegte gerade, ob ich alles zusammenpacken und mit nach Hause nehmen sollte, um dort weiterzulesen, als eine junge Frau sich näherte und sich an ein Ende des Tisches setzte. Ich sah mich um und stellte fest, dass die anderen Tische alle belegt waren; überall lagen Bücher, Manuskripte, Katalogschubladen und Notizzettel. Sie konnte sich nirgendwo anders hinsetzen, das begriff ich, aber plötzlich sorgte ich mich wegen Rossis Unterlagen – ich fürchtete den zufälligen Blick eines Fremden darauf. Sahen sie eindeutig verrückt aus? Oder ich?
    Ich wollte die Papiere gerade vorsichtig in ihrer ursprünglichen Ordnung wieder einsammeln und zurück in den Umschlag stecken, wollte jene langsamen, höflichen Bewegungen machen, mit denen man die Person, die sich entschuldigend mit an den Cafeteriatisch gesetzt hat, davon zu überzeugen versucht, dass man sowieso gerade gehen wollte, als mein Blick auf das Buch fiel, das die junge Frau vor sich auf dem Tisch in Händen hielt. Sie blätterte bereits in dessen Mitte, ein Notizblock und Bleistift lagen einsatzbereit neben ihrem Ellbogen. Ich sah vom Buchtitel zu ihrem Gesicht, erstaunt, und dann auf das andere Buch, das sie neben sich liegen hatte. Dann wieder zu ihrem Gesicht.
    Es war ein junges Gesicht, sehr hübsch, und doch zeigten sich bereits erste Altersspuren, feinste Fältchen, wie ich sie morgens auch um meine Augen herum im Spiegel sah, eine kaum verborgene Ermattung – was mich schlussfolgern ließ, dass auch sie bereits Doktorandin war. Es war ein elegantes, geradliniges Gesicht, das auch auf ein mittelalterliches Altarbild gepasst hätte; die sich zart weitenden Wangenknochen retteten es davor, schmal oder erschöpft zu wirken. Die Haut der jungen Frau war hell, würde nach einer Woche Sonne aber sicher einen olivenfarbenen Ton annehmen. Ihre Augen waren auf das Buch gesenkt, und ihr fester Mund und die weit geschwungenen Brauen schienen alarmiert durch das, was sie da las. Ihr dunkles, fast kohlschwarzes Haar war über der Stirn höher aufgekämmt, als es in jenen streng frisierten Zeiten Mode war. Das Buch, das sie las, an diesem Ort der Myriaden von Themen – ich sah noch einmal erstaunt hin –, hieß Die Karpaten. Und unter dem in einem schwarzen Pullover steckenden Ellbogen lag Bram Stokers Dracula.
    In diesem Moment sah die junge Frau zu mir auf und erwiderte meinen Blick, und mir wurde bewusst, dass ich sie unverwandt angestarrt hatte, was ihr unangenehm gewesen sein musste. Obwohl ihre Augen etwas neugierig Bernsteinfarbenes hatten, fast wie Honig, wirkte der finstere, eindringliche Blick, den sie mir zuwarf, äußerst feindselig. Ich war nicht unbedingt das, was man damals einen »Frauenheld« nannte, sondern hatte eher etwas von einem Einsiedler. Dennoch begriff ich gleich und beeilte mich, verlegen die Situation zu erklären. Später wurde mir klar, dass ihre Feindseligkeit der Selbstschutz einer wirklich bemerkenswert gut aussehenden Frau war, die ständig und überall angestarrt wurde.
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich schnell. »Aber es ist wegen Ihres Buches, ich meine, was Sie da lesen.«
    Wenig hilfreich sah sie mich weiter an, hielt ihr Buch vor sich aufgeschlagen und zog die dunklen Bogen ihrer Brauen weiter nach oben.
    »Wissen Sie, ich beschäftige mich im Moment mit dem gleichen Thema«, versuchte ich es wieder. Ihre Brauen hoben sich noch ein wenig mehr, aber ich deutete auf die Papiere vor mir. »Nein, wirklich. Ich habe gerade erst selbst…«

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