Der Historiker
die Briefe. Ich begriff, dass ich möglichst schnell handeln musste. Oft schon hatte ich Nächte durchgearbeitet, und innerhalb der nächsten Stunde würde ich womöglich für mich zusammenstellen können, was Rossi mir über die früheren Bedrohungen seines Lebens erzählt hatte, so wie er sie sah.
Mit knackenden Gelenken stand ich auf und ging in meine ärmliche Küche hinüber, um mir eine Bouillon heiß zu machen. Als ich den Topf aus dem Schrank holte, fiel mir auf, dass mein Kater nicht zum Abendessen hereingekommen war, das wir gewöhnlich gemeinsam einnahmen. Er war mir zugelaufen, und ich hatte den Verdacht, dass unser Verhältnis kein rein monogames war. Trotzdem, abends zur Essenszeit stand er in aller Regel an meinem Küchenfenster, sah von der Feuerleiter aus herein und ließ mich so wissen, dass er seine Büchse Thunfisch wollte oder, wenn ich die Spendierhosen anhatte, sein Sardinenmahl. Ich mochte es, wenn er in meine leblose Wohnung gesprungen kam, sich streckte und mir laut miauend seine Zuneigung zeigte. Oft blieb er nach dem Essen, hielt ein Nickerchen auf dem Sofa oder sah mir beim Hemdenbügeln zu. Mitunter glaubte ich einen Ausdruck von Zärtlichkeit in seinen perfekten gelben Augen zu sehen, wenn es vielleicht auch Mitleid war. Er war kräftig und sehnig, mit einem schwarzweißen Fell. Ich nannte ihn Rembrandt. Der Gedanke an ihn ließ mich die Jalousie anheben, das Fenster hochschieben und nach ihm rufen. Ich wartete darauf, dass seine Katzenpfoten auf der Fensterbank landeten, konnte aber nur den entfernten Verkehr der Stadt hören. Ich senkte den Kopf und sah hinaus.
Sein Körper füllte die Bank aus, auf groteske Weise, als hätte er sich spielend dort zusammengerollt und wäre dann plötzlich erlahmt. Ich zog ihn vorsichtig, ängstlich in die Küche und bemerkte gleich, dass sein Rückgrat gebrochen war und der Kopf unnatürlich hin und her rollte. Rembrandts Augen waren weiter aufgerissen, als ich es je gesehen hatte, die Lippen über das Zahnfleisch vor Angst fauchend zurückgezogen, die Krallen an seinen Vorderpfoten weit ausgefahren. Ich berührte sein weiches Fell, und Wut mischte sich in meinen Schrecken. Dass er nicht auf meine schmale Fensterbank gefallen sein konnte, das war mir gleich klar. Es verlangte schon einiges, eine solche Kreatur zu töten, und der Täter musste gekratzt und vielleicht auch ernsthaft gebissen worden sein. Aber es änderte nichts: Mein Freund war unwiderruflich tot. Ich legte ihn sanft auf den Küchenboden, und meine Lungen füllten sich mit rauchigem Zorn, bis mir bewusst wurde, dass sein Körper noch warm war.
Ich wirbelte herum und schloss das Fenster. Was sollte ich nur tun? Wie konnte ich mich selbst schützen? Die Fenster waren fest verschlossen und die Tür war doppelt verriegelt. Aber was wusste ich über die Schrecken der Vergangenheit? Leckten sie wie Nebel unter Türen herein? Oder zerschlugen sie Fenster und gingen direkt auf einen los? Fieberhaft suchte ich nach einer Waffe. Ich hatte keine Pistole, aber Pistolen vermochten in den Vampirfilmen auch nichts gegen Bêla Lugosi auszurichten, es sei denn, der Held besaß besondere Silberkugeln. Was hatte Rossi mir geraten? Ich würde mir nicht extra Knoblauch in die Tasche stecken, nein. Und noch etwas: Ich bin sicher, Sie verfügen über genug Güte und Moral – wie immer Sie es nennen wollen. Ich pflege den Glauben, dass das die meisten von uns tun.
In einer der Schubladen des Küchenschranks fand ich ein sauberes Geschirrtuch, wickelte Rembrandt vorsichtig darin ein und legte ihn in den Flur. Ich würde ihn morgen begraben müssen – wenn es denn wie gewohnt ein »Morgen« gab. Ich würde ihn hinter dem Haus vergraben – so tief, dass ihn kein Hund wieder ausbuddeln konnte. Ich konnte mir kaum vorstellen, jetzt noch etwas zu essen, trotzdem machte ich mir eine Tasse Suppe warm und schnitt dazu ein Stück Brot ab.
Dann setzte ich mich zurück an den Schreibtisch, räumte Rossis Papiere zusammen, steckte sie sorgfältig zurück in ihren Umschlag. Mein geheimnisvolles Drachenbuch legte ich oben auf den Umschlag und achtete dabei darauf, dass es sich nicht aus Versehen öffnete. Obenauf legte ich ein Exemplar von Hermanns Klassiker Das goldene Zeitalter Amsterdams, das lange Zeit eines meiner Lieblingsbücher gewesen war. Ich breitete meine Dissertationsunterlagen auf meinem Pult aus und nahm mir eine Flugschrift über Utrechter Kaufmannsgilden vor, eine Vervielfältigung aus der
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