Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
nicht glauben und als Ungläubige sterben, fällt der Fluch Allahs, der Engel und Menschen (aus dem Koran)«, und verschiedene ähnliche Sätze. Ich fragte mich, ob der Fluss, den ich da sah, der sein mochte, den er symbolisch durch den Schwanz des Drachens aus seinem Buch wiedergegeben sah. Aber nein, dann hätte er sich auf die Karte im größten Maßstab bezogen. Ich verfluchte die Umstände – sämtliche –, die dazu geführt hatten, dass ich die Originale nicht sehen und in Händen halten konnte. Trotz Rossis gutem Gedächtnis und seiner sorgfältigen Zeichnung gab es sicher ein paar Auslassungen oder Abweichungen, was das Original betraf.
    Die nächste Karte schien die westliche Bergregion der ersten Karte genauer wiederzugeben. Die Kreuze bildeten das gleiche Muster. Dazu war ein kleinerer Fluss eingezeichnet, der sich durch die Berge wand. Wieder keine Ortsbezeichnungen. Auf dem Rand hatte Rossi notiert: »Dieselben Koransprüche, wiederholt.« Nun, er war in jenen Tagen genauso gründlich gewesen wie der Rossi, den ich später kennen gelernt hatte. Dennoch waren die Karten zu einfach, die Umrisslinien zu grob, als dass sie mich an irgendeine spezifische Gegend erinnert hätten, die ich bereits einmal gesehen oder studiert hatte. Enttäuschung stieg in mir auf, und ich vermochte sie nur mit Mühe hinunterzuschlucken, zwang mich zur Konzentration.
    Die dritte Karte schien mir aussagekräftiger, obwohl ich mir nicht ganz sicher war, was sie mir an diesem Punkt sagen könnte. Der allgemeine Umriss entsprach tatsächlich der grimmigen Gestalt, die ich aus meinem und Rossis Drachenbuch kannte, obwohl es mir ohne Rossis Hinweis womöglich nicht gleich aufgefallen wäre. Die Karte zeigte dieselben Dreiecke, nur vergrößert. Die Berge waren jetzt sehr hoch, bildeten mächtige Nord-Süd-Kämme. Ein Fluss durchschnitt sie und verbreiterte sich zu einer Art Reservoir. Warum konnte das nicht der Snagov-See in Rumänien sein, wie es die Legenden über Draculas Begräbnisplatz erzählen? Aber wie Rossi schon angemerkt hatte, gab es in dem verbreiterten Mittelteil des Flusses keine Insel, und das Ganze sah sowieso nicht wie ein See aus. Die Kreuze tauchten ebenfalls wieder auf; diesmal waren sie mit winzigen kyrillischen Buchstaben bezeichnet. Ich nahm an, dass es die Dörfer waren, die Rossi erwähnt hatte.
    Zwischen den verstreuten Ortsnamen lag ein Quadrat, neben das Rossi geschrieben hatte: »(Arabisch) Das Unheilige Grab dessen, der Türken tötet.« Über dem Quadrat war ein sehr schön gezeichneter kleiner Drache, der eine Burg als Krone trug, und darunter fanden sich griechische Buchstaben und Rossis englische Übersetzung: »An diesem Ort wohnt er im Bösen. Leser, befreie ihn mit einem Wort aus seiner Gruft.« Die Worte waren wie ein Zwang, eine Beschwörung, und ich hatte meinen Mund bereits geöffnet, um sie laut auszusprechen, als ich mich im letzten Moment noch zu stoppen vermochte und die Lippen fest verschloss. Dennoch bildeten sie in meinem Kopf eine Art Gedicht, das dort sekundenlang infernalisch tanzte.
    Ich legte die drei Karten zur Seite. Es war Furcht erregend, sie so vor mir liegen zu sehen, genau wie Rossi sie mir beschrieben hatte, und merkwürdiger noch, nicht die Originale zu sehen, sondern die Zeichnungen, die er selbst angefertigt hatte. Was bewies mir am Ende, dass er das alles nicht erfunden und diese Karten zum Scherz selbst entworfen hatte? Ich verfügte über keinerlei Originalgut, nur über seine Briefe. Ich trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Die Uhr in meinem Zimmer schien an diesem Abend ungewöhnlich laut zu ticken, und das Halbdunkel der Stadt hinter der Jalousie kam mir zu ruhig vor. Seit Stunden hatte ich nichts gegessen, und meine Beine schmerzten, aber ich konnte jetzt keine Pause machen. Ich warf einen kurzen Blick auf die Straßenkarte des Balkans, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken – keine handschriftlichen Markierungen oder dergleichen. Die Rumänien-Broschüre enthielt ebenfalls nichts, was mir außergewöhnlich erschienen wäre, abgesehen davon, dass sie in einem merkwürdigen Englisch verfasst war: »Machen Sie Gebrauch von unserer üppigen, entsetzlichen Landschaft«, stand da zum Beispiel. Das Einzige, was jetzt noch blieb, waren die Notizen aus Rossis Hand und der kleine elfenbeinfarbene versiegelte Umschlag, der mir bei meiner ersten Durchsicht aufgefallen war. Ich hatte ihn mir bis zuletzt aufheben wollen, weil er versiegelt war, aber jetzt

Weitere Kostenlose Bücher