Der Historiker
konnte ich nicht länger warten. Ich suchte nach meinem Brieföffner, erbrach das Siegel und zog ein Blatt Papier heraus, ein Blatt aus einem Notizblock.
Es war noch einmal die dritte Karte mit der Drachensilhouette, dem sich windenden Fluss, den aufragenden, karikierten Bergspitzen. Die Kopie war mit schwarzer Tinte angefertigt worden, wie Rossis Version, aber der Strich war leicht unterschiedlich – ein gutes Faksimile, nur etwas gedrängt, archaisch, fast verschnörkelt, wenn man es genauer betrachtete. Rossis Brief hätte mich auf den einen wirklichen Unterschied zu seiner Karte vorbereiten müssen, dennoch traf es mich wie ein körperlicher Schlag: Über dem Quadrat, dem Begräbnisplatz, und dem ihn bewachenden Drachen spannte sich in einem Bogen der Namenszug – »Bartolomeo Rossi«.
Ich kämpfte Annahmen nieder, Ängste und Schlüsse, und zwang mich dazu, das Papier zur Seite zu legen und die Seiten mit Rossis Aufzeichnungen zu lesen. Die ersten beiden Aufzeichnungen waren augenscheinlich in den Archiven in Oxford und der British Library niedergelegt worden, und sie enthielten nichts, was er mir nicht schon erzählt gehabt hätte. Sie bestanden aus einem kurzen Abriss von Vlad Draculas Leben und Wirken sowie einer Aufstellung von literarischen und historischen Dokumenten, in denen Dracula über die Jahrhunderte erwähnt worden war. Diesen folgte eine weitere Aufzeichnung auf einem anderen Papier, die laut Ortsangabe und Datierung während Rossis Abstecher nach Istanbul niedergelegt worden war. »Aus dem Gedächtnis wiederhergestellt«, hieß es in eiliger und dennoch sorgsamer Handschrift, und ich begriff, dass es sich hierbei um die Aufzeichnungen handeln musste, die er nach seinem Erlebnis in dem Archiv aufs Papier geworfen hatte, als er die Karten aus dem Gedächtnis neu anfertigte, bevor er nach Griechenland abreiste.
Auf diesem dritten Blatt hatte er den Bestand der Istanbuler Bibliothek an Dokumenten aus der Zeit Sultan Mehmeds II. aufgelistet – wenigstens diejenigen, von denen Rossi annahm, dass sie seine Forschungsarbeit betrafen: die drei Karten, Schriftrollen mit Geschäftsberichten aus den karpatischen Kriegen gegen die Osmanen sowie Aufstellungen von Waren, die osmanische Händler am Rande der Region untereinander getauscht hatten. Nichts davon schien mir wirklich hilfreich, aber ich fragte mich, wann genau Rossi von dem unangenehm aussehenden Bürokraten in seiner Arbeit unterbrochen worden war. Konnten die Schriftrollen mit den Geschäftsberichten und Handelsbüchern, die hier genannt waren, Hinweise auf Vlad Tepes’ Ableben und seine Beerdigung enthalten? Hatte Rossi das alles selbst einsehen können, oder hatte er nur die Zeit gehabt, den Bestand zu verzeichnen, bevor er aus dem Archiv verjagt wurde?
Der letzte Punkt auf der Liste überraschte mich, und ich verweilte ein paar Minuten dabei. »Bibliografie, Drachenorden (Teil einer Schriftrolle).« Was mich an dieser Notiz überraschte und zögern ließ, war die Tatsache, dass sie ohne Informationsgehalt war. Untypisch für Rossi. Handelte es sich bei dieser Bibliografie, die er so knapp erwähnte, um ein Verzeichnis, das von der Bibliothek erstellt worden war, um das gesamte Material zu erfassen, das im Hause den Drachenorden betreffend aufbewahrt wurde? Wenn das so war, warum lag es dann als Teil einer Schriftrolle vor? Es musste sich um ein altes Schriftgut handeln, dachte ich, vielleicht ein Archivgut aus der Zeit des Drachenordens. Aber warum hatte Rossi keine weiteren Erklärungen hinzugefügt auf diesem stummen Blatt Papier? Hatte sich die Bibliografie, was immer es sein mochte, für ihn als irrelevant erwiesen?
Diese Mutmaßungen über ein entlegenes Archiv, in dem Rossi vor so langer Zeit gearbeitet hatte, schienen kaum ein direkter Weg, um sein Verschwinden zu verstehen, und ich ließ das Blatt verärgert fallen. Die kleinen Belanglosigkeiten seiner Forschungsarbeit langweilten mich plötzlich. Ich wollte Antworten. Mit Ausnahme der Inhalte der Schriftrollen und eben dieser alten Bibliografie hatte Rossi mir seine Entdeckungen überraschend gründlich mitgeteilt. Die Genauigkeit passte zu ihm, zudem hatte er die luxuriöse Möglichkeit gehabt – wenn man es so nennen konnte –, sich in den Briefen ausführlich zu erklären. Und doch wusste ich wenig, bis auf das, was ich wahrscheinlich als Nächstes unternehmen sollte. Der Umschlag lag entmutigend leer vor mir, und die letzten Dokumente hatten mich kaum weiter gebracht als
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