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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Rand des wundervoll gefärbten Meeres sehen, und eine Gruppe kleiner Kinder ging mit ihrer Mutter, ihren Eimerchen und ihren – für mich – ungewöhnlichen französischen Badeanzügen zum Sandstrand unterhalb des Hotels. Zu unserer Rechten beschrieb die Küstenlinie einen Bogen in Gestalt zerklüfteter Felswände. Auf einem Fels thronte eine verfallene Festung in der Farbe wie das Gestein und das trockene Gras. Olivenbäume kletterten dem alten Gemäuer entgegen, dahinter strahlte der zartblaue Morgenhimmel.
    Und auf einmal durchzuckte mich das Gefühl, nicht hierher zu gehören, der Neid auf diese unerträglich selbstgefälligen Kinder mit ihrer Mutter. Ich hatte keine Mutter und führte auch kein normales Leben. Ich war nicht einmal sicher, was das bedeutete, ein »normales Leben«, aber während ich in meinem Biologiebuch das dritte Kapitel suchte, dachte ich vage, dass es bedeuten mochte, an einem Ort zu leben, mit einer Mutter und einem Vater, die zum Abendessen mit am Tisch saßen, einem Haushalt, für den Reisen in einem gelegentlichen Strandurlaub bestand, nicht ein nie aufhören wollendes Nomadentum. Im Übrigen war ich mir sicher, dass diese Kinder, die dort unten im Sand buddelten, nie von der grimmigen Düsternis der Geschichte bedroht werden würden.
    Aber während ich auf ihre glänzenden Köpfe hinuntersah, begriff ich, dass sie natürlich bedroht waren; sie waren sich dessen nur nicht bewusst. Wir sind alle verletzlich. Mich schauderte, und ich sah auf meine Uhr. In etwa vier Stunden würden mein Vater und ich auf dieser Terrasse zu Mittag essen. Dann würde ich mich noch einmal ans Lernen machen, und gegen fünf würden wir zu der Festungsruine hinaufsteigen, die den nahen Horizont schmückte – von wo aus man die kleine seeumschlossene Kirche in Collioure sehen könnte. Ich würde also noch ein wenig Algebra lernen und ein paar deutsche Verben, ein weiteres Kapitel im Rosenkrieg lesen und dann… was? Oben auf dem kargen Kliff würde ich das nächste Kapitel von Vaters Geschichte hören. Er würde nur widerstrebend anfangen, dabei auf den Sand hinunterstarren und mit den Fingern angstverloren über den Fels streichen, der vor Jahrhunderten zu Bausteinen gebrochen worden war. Und danach würde es wieder an mir sein, die Einzelteile zusammenzufügen. Unten schrie ein Kind, und ich fuhr erschrocken auf und verschüttete meine Schokolade.

 
    15
     
     
     
    Als ich den letzten von Rossis Briefen gelesen hatte, sagte mein Vater, wurde ich erneut von Trostlosigkeit überwältigt, als wäre er ein zweites Mal verschwunden. Mittlerweile war ich überzeugt, dass sein Verschwinden nichts mit einer Busreise nach Hartford oder einem Krankheitsfall in der Familie in Florida (oder London) zu tun hatte, wie es die Polizei nahe zu legen versucht hatte. Ich verbannte all diese Gedanken jedoch aus meinem Kopf und machte mich daran, die verbliebenen Papiere durchzusehen. Lies sie zuerst und nimm alles in dich auf. Bringe sie dann in eine Chronologie und fange an – Schritt für Schritt –, Schlüsse daraus zu ziehen. Ich fragte mich, ob Rossi je gedacht hatte, dass er, indem er mich ausbildete, einst womöglich sein eigenes Überleben sichern würde. Das Ganze war ein grausames Abschlussexamen – auch wenn ich inständig hoffte, dass es weder für ihn noch für mich ein Abschluss und damit das Ende sein würde. Ich wollte keinen Plan aufstellen, bevor ich nicht alles gelesen hatte, so sagte ich mir, dennoch hatte ich bereits eine Ahnung, was ich wahrscheinlich tun müsste. Ich öffnete ein weiteres Mal den verblichenen Umschlag.
    Die nächsten drei Dokumente waren Karten, wie Rossi versprochen hatte, alle mit der Hand gezeichnet und nicht älter als die Briefe. Natürlich: Das waren seine eigenen Versionen der Karten, die er in dem Archiv in Istanbul entdeckt und nach seinem Abenteuer dort aus der Erinnerung nachgezeichnet hatte. Auf der ersten Karte, die ich in die Hand nahm, sah ich ein großes Gebiet mit Bergen, die durch kleine, unten offene Dreiecke dargestellt waren. Sie formten zwei lange Ost-West verlaufende halbmondförmige Gebirgszüge und drängten sich im Westen zu einer Gruppe. Ein breiter Fluss wand sich am Nordrand der Karte entlang. Städte waren keine zu sehen, es sei denn, die drei oder vier kleinen Kreuze im Westen markierten Ortschaften. Es gab auch keine Bezeichnungen, aber Rossi – es war genau die Schrift des letzten Briefes – hatte Dinge auf den Rand geschrieben: »Auf jene, die

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