Der Historiker
können?
»Miss Rossi«, sagte ich, so ruhig ich konnte, und nahm dabei das Buch und legte es mit dem Titel nach unten zur Seite, »Ihre Geschichte ist außergewöhnlich, und ich werde sicher eine Weile brauchen, um das alles zu verarbeiten. Aber ich muss dazu etwas sehr Wichtiges sagen.« Ich atmete tief durch, dann gleich noch einmal. »Ich kenne Professor Rossi ziemlich gut. Er ist seit zwei Jahren mein Doktorvater. Wir haben Stunden um Stunden miteinander verbracht. Ich bin sicher… wenn Sie… wenn Sie ihn kennen lernten, würden Sie sehen, dass er ein weit besserer und gutherzigerer Mensch ist, als Sie es sich im Moment vorstellen können.« Es sah so aus, als wollte sie etwas sagen, aber ich fuhr rasch fort: »Die Sache ist die… So wie Sie von ihm sprechen, nehme ich an, wissen Sie nicht, dass Professor Rossi, Ihr Vater, verschwunden ist.«
Sie starrte mich an, und ich konnte keinerlei Arglist in ihrem Gesicht entdecken, nur Verwirrung. Sie war wirklich überrascht. Der Schmerz, der auf meinem Herzen lastete, ließ ein wenig nach. »Wie meinen Sie das?«, wollte sie wissen.
»Ich meine… Vor drei Abenden habe ich mich noch wie gewohnt mit ihm unterhalten, und am nächsten Tag war er verschwunden. Die Polizei sucht nach ihm. Offenbar ist er aus seinem Büro verschwunden und wurde dabei auch verletzt. Auf seinem Schreibtisch war Blut.« Ich erzählte ihr kurz, wie der Abend verlaufen war, angefangen damit, dass ich ihm mein seltsames kleines Buch mitgebracht hatte, sagte jedoch nichts von dem, was Rossi mir erzählt hatte.
Voller ungläubigem Staunen sah sie mich an. »Ist das eine Art Scherz, den Sie sich da mit mir erlauben?«
»Nein, ganz und gar nicht. Wirklich nicht. Ich habe seitdem kaum mehr etwas gegessen oder richtig geschlafen.«
»Und hat die Polizei keine Vorstellung, wo er sein könnte?«
»Soweit ich weiß, nein.«
Ihr Ausdruck wurde plötzlich prüfend. »Und Sie?«
Ich zögerte. »Möglicherweise. Aber das ist eine lange Geschichte, und sie scheint stündlich länger zu werden.«
»Warten Sie.« Sie sah mich an. »Als Sie gestern in der Bibliothek diese Briefe lasen und sagten, Sie hätten mit dem Problem von jemandem zu tun, meinten Sie da Rossi?«
»Ja.«
»Was für ein Problem war das? Ist das?«
»Ich möchte Sie nicht in Unannehmlichkeiten oder gar Gefahr bringen, indem ich Ihnen das Wenige erzähle, das ich weiß.«
»Sie haben versprochen, meine Frage zu beantworten, wenn ich Ihre beantwortet habe.« Hätte Sie statt ihrer dunklen, fast schwarzen Augen blaue gehabt, hätte sie in diesem Moment eine Zwillingsschwester Rossis sein können. Ja, da war eine Ähnlichkeit, und auf geradezu unheimliche Weise leuchtete mir Rossis englische Klarheit aus diesem festen, dunklen, rumänischen Gesicht entgegen, obwohl ich mir das womöglich nur einbildete, weil sie mir versichert hatte, seine Tochter zu sein. Aber konnte sie wirklich seine Tochter sein, wo er so standhaft versichert hatte, dass er nie in Rumänien gewesen war? Zumindest hatte er behauptet, nie in Snagov gewesen zu sein. Andererseits hatte ich in dem Umschlag auch eine Broschüre über Rumänien gefunden. »Es ist zu spät, mir zu sagen, ich solle keine Fragen stellen. Was haben diese Briefe mit seinem Verschwinden zu tun?« Damit war Rossi wieder aus ihrem Gesichtsausdruck verschwunden.
»Ich bin noch nicht sicher. Aber möglicherweise brauche ich die Hilfe eines Fachmanns. Ich weiß ja nicht, was für Entdeckungen Sie bei Ihren Nachforschungen gemacht haben…« Erneut dieser vorsichtige Blick unter ihren schweren Lidern hindurch. »Ich bin sicher, dass Rossi sich persönlich in Gefahr fühlte, bevor er verschwand.«
Sie schien zu versuchen, das alles zu verarbeiten, diese Informationen über ihren Vater, den sie bis jetzt nur als Symbol der Herausforderung gesehen hatte. »Persönlich in Gefahr? Was für einer Gefahr?«
Ich wagte den Sprung. Rossi hatte mich gebeten, seine wahnsinnige Geschichte niemandem zu erzählen. Das hatte ich auch nicht getan, aber jetzt hatte ich unerwarteterweise die Möglichkeit, eine Expertin um Hilfe bitten zu können. Diese Frau wusste möglicherweise bereits, was ich erst in monatelanger Arbeit herausfinden könnte. Und vielleicht stimmte es ja sogar, wenn sie sagte, dass sie mehr als Rossi selbst zum Thema wüsste. Rossi hatte immer darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, Rat von Fachleuten einzuholen – gut, das würde ich nun tun. Vergebt mir, betete ich zu den Mächten des
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