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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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kleinen Bus, der um den See herumfuhr und uns fast bis auf die Höhe der Burg brachte, und machten uns von da aus zu Fuß an das letzte Stück. Die Burg war aus knochenblassem Stein erbaut, und nach Jahren des Verfalls hatte man sie sorgfältig wieder restauriert. Als wir gleich durch die erste Tür in einen Empfangssaal traten (ich glaube, das war es), war ich überwältigt: Durch ein bleigefasstes Fenster leuchtete der See weit unter uns hell in der Sonne, und die Burg schien sich nur mit den Zehenspitzen an den Abgrund zu klammern. Die rotgelbe Kirche auf der Insel unten, das hübsche Boot, das gerade in diesem Moment neben kleinen gelb und rot blühenden Blumenwiesen anlegte, der wunderbar blaue Himmel – all das musste schon seit Ewigkeiten ein Paradies für Touristen sein.
    Aber diese Burg, die seit dem zwölf ten Jahrhundert mit ihren Lanzen, Speeren, Äxten und Rüstungen hier oben auf den Felsen thronte und um die man Angst haben musste, dass sie mit der nächsten Berührung in die Tiefe stürzte – diese Burg war weit mehr: Sie war das Herz dieses Landstrichs. Die frühen Siedler, die aus ihren strohgedeckten, leicht entzündlichen Hütten in die Höhe strebten, hatten sich am Ende entschlossen, hier bei den Adlern zu leben, beherrscht nur von einem Landesherren. Und trotz aller modernen Eingriffe atmeten die Mauern immer noch das alte Leben. Ich wandte mich von dem berauschenden Ausblick ab und trat in den nächsten Raum. In einem Sarg aus Glas und Holz lag das Skelett einer kleinen Frau, die lange vor Beginn der christlichen Zeitrechnung gestorben war. Auf ihrem zerfallenen Brustbein ruhte die bronzene Brosche ihres Umhangs, und grünlich schimmernde Bronzeringe rutschten ihr von den Fingerknochen. Als ich mich über den Sarg beugte, um sie anzusehen, lächelte sie mich plötzlich aus ihren tiefen Augenschächten an.
     
     
    Auf der Burgterrasse wurde der Tee in eleganten weißen Porzellankannen serviert, eine Konzession an den Tourismus. Der Tee war stark und gut und der Würfelzucker in blütenweißes Papier eingewickelt. Mein Vater hielt die Hände so fest auf dem eisernen Tisch gefaltet, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Ich sah auf den See hinaus und schenkte ihm noch eine Tasse ein. »Danke«, sagte mein Vater. In seinen Augen lag ein ferner Schmerz, und mir wurde erneut bewusst, wie erschöpft und schmal er seit einiger Zeit aussah. Sollte er vielleicht zu einem Arzt gehen? »Was meinst du, Liebes«, sagte er und drehte sich so weit zur Seite, dass ich nur mehr sein Profil vor dem herrlichen Hintergrund aus Fels und glitzerndem Wasser sah. Er machte eine kurze Pause. »Würdest du sie vielleicht aufschreiben wollen?«
    »Die Geschichten?«, fragte ich. Mein Herz zog sich zusammen und fing dann wild an zu schlagen.
    »Ja.«
    »Warum?« Es kostete mich einen Moment, das zu fragen. Es war eine erwachsene Frage, ohne die Umschweife kindlicher Schliche, hinter denen sich anderes verbirgt. Er sah mich an, und seine so erschöpften Augen waren voller Güte und Trauer.
    »Weil, wenn du es nicht tust, werde ich es aufschreiben müssen«, sagte er. Damit wandte er sich seinem Tee zu, und ich sah, dass er im Moment nichts Weiteres sagen würde.
    Am selben Abend noch begann ich aufzuschreiben, was er mir bis dahin erzählt hatte. Er hatte immer gesagt, ich hätte ein ausgezeichnetes Gedächtnis – »zu gut«, sagt er manchmal sogar.
    Tags darauf erklärte mir mein Vater am Frühstückstisch, dass er zwei oder drei Tage ausspannen wolle. Das war ungewöhnlich für ihn, aber ich sah die dunklen Ringe unter seinen Augen, und mir gefiel der Gedanke, eine kleine Pause einzulegen. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass ihm etwas zugestoßen war und eine leise neue Angst ihn quälte. Er sagte jedoch nur, dass er sich nach den Stränden der Adria sehne, und so nahmen wir den Schnellzug Richtung Küste und kamen unterwegs durch Bahnhöfe, deren Namen zunächst in lateinischer und kyrillischer Schrift geschrieben waren, dann nur noch in kyrillischer. Mein Vater lehrte mich das neue Alphabet, und ich hatte meinen Spaß daran, die Ortsnamen laut vorzulesen; sie sahen wie Kodewörter aus, mit denen sich geheime Türen öffnen ließen.
    Als ich meinem Vater das sagte, lächelte er sanft und lehnte sich auf seinem Sitz zurück, vor sich auf der Aktentasche das Buch, in dem er gerade las. Immer wieder wanderte sein Blick zum Fenster, hinter dem junge Männer auf Traktoren saßen und pflügten, mitunter auch ein

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