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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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kommen, uns unser kulturelles Erbe streitig machen und ihre Kommentare dazu abgeben. Gewöhnlich verstehen sie sowieso alles falsch.«
    Ich muss laut gestöhnt haben, denn sie machte eine kurze Pause und sah mich mit zusammengezogenen Brauen an. »Bis Ende des Sommers werde ich mehr als jeder andere auf dieser Welt über Dracula wissen. Sie können Ihren Stoker übrigens haben.« Mit einem Griff hatte sie das Buch aus ihrer Tasche gezogen und knallte es regelrecht zwischen uns auf den Tisch. »Ich wollte gestern nur schnell etwas nachschlagen und hatte mein eigenes Exemplar nicht dabei. Sie sehen, ich brauche es nicht. Es ist sowieso nur Literatur, und ich kenne die verdammte Geschichte fast auswendig.«
    Mein Vater sah sich um, wie ein Mann, der in einen Traum versunken ist. Wir standen schon seit einer Viertelstunde schweigend auf der Akropolis, die Füße fest auf diesem Scheitelpunkt antiker Zivilisation. Die muskulös mächtigen Säulen über uns erfüllten mich mit Ehrfurcht, und ich war überrascht, nur Berge am Horizont zu sehen, lange, trockene Bergrücken, die zu dieser Stunde dunkel über der Stadt aufragten. Aber als wir den Rückweg antraten, mein Vater aus seiner Träumerei erwachte und mich fragte, wie mir das wundervolle Panorama gefallen habe, brauchte ich erst eine Minute, um meine Gedanken zu sammeln, bevor ich ihm antworten konnte. Ich hatte über die letzte Nacht nachgedacht.
    Ein bisschen später als gewöhnlich war ich noch zu ihm in sein Zimmer gegangen, damit er meine Algebraaufgaben durchsehen konnte. Er beschäftigte sich gerade wie so oft abends mit einem Bericht oder dergleichen, aber während er sonst aufrecht dasaß und gezielt durch seine Papiere blätterte, hielt er den Kopf heute tief über ein paar Dokumente gebeugt. Von der Tür aus konnte ich nicht erkennen, ob er etwas durchsah, das er gerade geschrieben hatte, oder einfach nur versuchte, nicht einzunicken. Seine Gestalt warf einen langen Schatten auf die ungeschmückte Hotelzimmerwand, den Scherenschnitt eines Mannes, der kraftlos über einem anderen, dunkleren Schreibtisch zusammengesackt war. Hätte ich nicht um seine Mattigkeit gewusst und die vertraute Form seiner Schultern über der Arbeit erkannt, hätte ich – wäre er mir unbekannt gewesen – in diesem Moment angenommen, er sei tot.

 
    18
     
     
     
    Strahlend klares Wetter begleitete uns, als wir mit beginnendem Frühling nach Slowenien kamen. Als ich meinen Vater fragte, ob wir noch einmal nach Emona fahren könnten – die Stadt war bereits Teil früherer Tage, die mir lange vergangen vorkamen und doch zugleich auch wie der Beginn von etwas Neuem –, sagte mein Vater, dazu bliebe keine Zeit, nach seiner Konferenz an einem großen See nördlich der Stadt müssten wir schnellstens zurück nach Amsterdam, damit ich in der Schule nicht den Anschluss verlöre. Was übrigens nie passierte, aber mein Vater sorgte sich deswegen.
    Der Biedersee erfüllte alle Erwartungen. Am Ende einer der Eiszeiten hatte er ein Alpental gefüllt und ersten Nomaden, die Pfahlbauten in ihm errichteten, eine feste Heimstatt geboten. Wie ein Saphir lag er in der Hand der Alpen, die Oberfläche im späten Nachmittagswind hier und da weiß aufgeraut. Oben auf einem Felsen, der sich steiler und höher als seine Umgebung aus dem Wasser reckte, lag eine der schönsten slowenischen Burgen, die vom Staat ungewöhnlich geschmackvoll wieder hergerichtet worden war. Ihre Zinnen ragten hoch über eine kleine Insel, auf der eine der bescheidenen, an Österreich erinnernden rot gedeckten Kirchen wie eine Ente im Wasser zu treiben schien. Alle paar Stunden konnte man mit dem Boot zu ihr hinüberfahren. Das Hotel war wie gewöhnlich eine Stahl- und Glaskonstruktion – Modell Nr. 5 aus dem sozialistischen Tourismuskatalog –, und am Abend des zweiten Tages flohen wir förmlich daraus, um einen Spaziergang um den unteren Teil des Sees zu machen. Ich erklärte meinem Vater, dass ich wahrscheinlich nicht noch weitere vierundzwanzig Stunden warten könne, bis wir endlich diese Burg besichtigten, die bei jedem Essen unseren Ausblick aus der Ferne beherrschte.
    »Dann müssen wir wohl schon früher hin«, sagte er lächelnd. Seine Gespräche waren weit besser verlaufen, als er und sein Team es sich erhofft hatten, und einige der Falten auf seiner Stirn schienen sich etwas zu glätten.
    So ließen wir schon am nächsten Morgen die Diplomatie und die diplomatischen Ergebnisse hinter uns, kletterten in den

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