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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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seltsam, aber wenn Sie die Briefe kennen, werden Sie meine Eile verstehen.«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn es nicht zu lange dauert.«
    »Das wird es nicht. Können Sie mich in Saint Mary’s treffen?« Diesen Test wenigstens konnte ich mit Rossis eigener Gründlichkeit durchführen. Sie zuckte mit keiner Wimper, ihre harte, ironische Miene blieb unverändert. »Das ist die Kirche in der Elm Street, zwei Blöcke von – «
    »Ich weiß, wo sie ist«, sagte sie, nahm ihre Handschuhe und zog sie sorgsam an. Sie legte sich ihr blaues Tuch um den Hals, wo es wie Lapislazuli schimmerte. »Wann?«
    »Geben Sie mir eine halbe Stunde, um die Papiere aus meiner Wohnung zu holen. Ich treffe Sie dann dort.«
    »In der Kirche. Okay. Ich gehe vorher kurz in die Bibliothek, wegen eines Aufsatzes, den ich heute noch brauche. Bitte seien Sie pünktlich – ich habe viel zu tun.« Der Rücken in ihrem schwarzen Mantel wirkte schlank und kräftig, als sie auf die Tür des Cafés zuging. Zu spät stellte ich fest, dass sie irgendwie bereits unsere Rechnung bezahlt hatte.

 
    20
     
     
     
    Saint Mary’s, sagte mein Vater, war ein wunderbares Kleinod viktorianischer Architektur, das sich am Rand des alten Campus erhob. Ich war Hunderte Male an der Kirche vorbeigekommen, ohne je hineingegangen zu sein, aber jetzt schien mir, dass eine katholische Kirche bei all diesem Horror die rechte Hilfe war. Rang der Katholizismus nicht täglich mit Blut und wiederauferstandenem Fleisch? Kannte er sich nicht bestens mit Aberglauben aus? Irgendwie bezweifelte ich, dass die schlichten protestantischen Kirchen und Kapellen, die über das Universitätsgelände verstreut lagen, von großer Hilfe wären. Sie schienen mir nicht stark genug, um mit den Untoten zu kämpfen. Und auch die großen, eckigen puritanischen Kirchen an der Grünanlage im Zentrum der Stadt würden meiner Meinung nach gegen einen europäischen Vampir nicht viel ausrichten können. Eine kleine Hexenverbrennung, die lag schon mehr auf ihrer Linie – aber nichts, das zu sehr in die Ferne schweifte. Natürlich würde ich lange vor der mir nur widerstrebend folgenden Helen Rossi in Saint Mary’s sein. Würde sie überhaupt kommen? Das war bereits die erste Hälfte der Probe.
    Saint Mary’s war glücklicherweise geöffnet, und es roch nach Wachs und staubigen Polstern. Vorn am Altar arrangierten zwei alte Frauen mit künstlichen Blumen an den Hüten frische Bouquets. Ich setzte mich etwas linkisch in eine der hinteren Bänke, von wo aus ich die Tür im Auge hatte, ohne gleich von jedem, der hereinkam, gesehen zu werden. Ich musste lange warten, aber die Stille der Kirche und die gedämpften Worte der beiden Frauen vorn beruhigten mich etwas. Zum ersten Mal nach der unruhigen letzten Nacht verspürte ich Müdigkeit. Endlich öffnete sich die Tür, die neunzig Jahre alten Angeln quietschten, und Helen Rossi stand für einen Moment zögernd im Licht, sah sich um und trat dann ein.
    Das Sonnenlicht, das durch die Seitenfenster hereinfiel, warf Türkis und Mauve auf ihren Mantel, als sie auf dem Teppich am Eingang stand und sich umsah. Da sie niemanden sehen konnte, trat sie ein paar Schritte vor. Zuckte sie zurück, zeigten sich Falten des Bösen auf ihrer Stirn oder veränderte sich die Farbe auf ihrem festen Gesicht? Ich sah nach allem, was auf eine Allergie gegen Draculas alten Feind, die Kirche, hätte deuten können. Aber vielleicht vermochten die viktorianischen Knochen und Reliquien, die es hier sicher gab, die Mächte der Finsternis auch nicht abzuwehren, dachte ich zweifelnd. Dennoch, die Kirche verfügte ganz offenbar über eine eigene Kraft auf Helen Rossi, die jetzt durch die leuchtenden Farben der Fenster zum Weihwasserbecken ging. Mit einem Gefühl von Scham und Voyeurismus sah ich, wie sie einen Handschuh auszog, die Hand in das Becken tauchte und anschließend ihre Stirn berührte. Die Geste war sanft, und von meinem Platz aus sah ich den ernsten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Nun, ich tat es für Rossi. Und jetzt wusste ich absolut sicher, dass diese junge Frau kein vrykolakas war, wie streng und mitunter unheimlich sie auch erscheinen mochte.
    Sie trat ins Mittelschiff und zuckte leicht zusammen, als sie mich aufstehen sah.
    »Haben Sie die Briefe dabei?«, flüsterte sie und fixierte mich dabei anklagend. »Ich muss um eins zurück im Institut sein.« Wieder sah sie sich um.
    »Was ist?«, fragte ich schnell, und meine Arme kribbelten vor instinktiver Nervosität.

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