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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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beladenes Pferdegespann zu sehen war und alte Frauen in ihren Küchengärten knieten, im Boden kratzten und Unkraut rupften. Wir fuhren nach Süden, die Landschaft, durch die wir kamen, wurde sanfter, golden und grün, stieg langsam wieder an in ein felsiges Grau und senkte sich schließlich zum glitzernden Meer. Mein Vater seufzte tief, aber es war ein befriedigtes Seufzen, nicht das erschöpfte Durchatmen, das in letzter Zeit immer öfter zu vernehmen war.
    In einem geschäftigen kleinen Marktflecken stiegen wir aus, und mein Vater mietete uns einen Wagen, mit dem wir den zerklüfteten Windungen der Küstenstraße folgten. Beide reckten wir die Hälse, um auf das Wasser hinauszusehen, das sich bis an einen im Nachmittagsdunst verschwimmenden Horizont dehnte, und um zwischendurch auf der anderen Seite die zerfallenen Ruinen einer osmanischen Festung in den Blick zu bekommen, die sich hoch in den Himmel reckten. »Die Türken haben das Land hier lange beherrscht«, sagte mein Vater. »Ihre Invasionen waren blutig und grausam, ihre Herrschaft danach aber durchaus tolerant, wie das oft geschieht – und sie hielten sich Hunderte von Jahren. Das Land ist ziemlich karg, liegt aber strategisch wichtig, mit Häfen und Buchten, um das Meer unter Kontrolle zu halten.«
    Die Stadt, in der wir schließlich hielten, lag direkt am Meer. Der kleine Hafen war voller Fischerboote, die in der klaren Brandung gegeneinander stießen. Mein Vater wollte auf eine der nahen Inseln und winkte ein Boot heran, dessen Eigner, ein alter Mann mit schwarzer Baskenmütze, sich einverstanden erklärte, uns überzusetzen. Die Luft war warm, obwohl sich der Nachmittag bereits seinem Ende zuneigte, und die bis zu meinen Fingerspitzen aufsprühende Gischt war frisch, aber nicht kalt. Ich lehnte mich über den Bug und fühlte mich wie eine Galionsfigur. »Vorsicht«, sagte mein Vater, der hinter mir stand, und hielt mich am Pullover fest.
    Der Kapitän steuerte den kleinen Inselhafen an, ein altes Dorf mit einer eleganten Steinkirche. Er machte das Boot an einem Poller der Hafenmauer fest und hielt mir seine knorrige alte Hand hin, damit ich aussteigen konnte. Mein Vater bezahlte ihn mit einigen der bunten sozialistischen Geldscheine, und der Kapitän legte die Hand an die Mütze. Als er zurück an seinen Platz kletterte, rief er uns noch auf Englisch hinterher: »Ihr Mädchen? Tochter?«
    »Ja«, antwortete mein Vater und klang überrascht.
    »Ich segne sie«, gab der Mann zurück und machte das Kreuzzeichen.
    Mein Vater fand Zimmer für uns, von denen aus man das Festland sehen konnte, und dann aßen wir draußen vor einem Restaurant in der Nähe des Hafens zu Abend. Die Dämmerung senkte sich langsam herab, und ich konnte über dem Meer die ersten Sterne erkennen. Es war etwas frischer geworden, und der Wind trug die Gerüche herüber, die ich längst lieb gewonnen hatte: Zypresse, Lavendel, Rosmarin und Thymian. »Warum werden gute Gerüche im Dunkeln kräftiger?«, fragte ich. Das interessierte mich wirklich, aber es half auch, alles andere hinauszuschieben. Ich brauchte Lichter und Menschen, die sich unterhielten, eine Art Auszeit vom Zittern des Alters in den Händen meines Vaters.
    »Tun sie das?«, fragte er geistesabwesend und brachte mir damit Erleichterung. Ich griff nach seiner Hand, um das Zittern zu besänftigen, und er schloss sie, mit den Gedanken immer noch anderswo, um meine. Er war zu jung, um schon alt zu werden. Auf dem Festland drüben tanzten die Umrisse der Berge bis ins Wasser, wuchsen über die Strände und fast bis zu unserer Insel. Als fast zwanzig Jahre später in dieser Küstenregion der Bürgerkrieg ausbrach, schloss ich die Augen und erinnerte mich erstaunt an den Anblick von damals: Ich konnte mir nicht vorstellen, dass genug Menschen in diesen Bergen lebten, um einen Krieg zu führen. Wie unberührt hatte alles ausgesehen, unbewohnt, voller leerer Ruinen, die das Kloster am Meer bewachten.

 
    19
     
     
     
    Nachdem Helen Rossi Stokers Buch, das sie offensichtlich für den Zankapfel hielt, zwischen uns auf den Cafétisch geknallt hatte, erwartete ich fast, dass alles aufsprang und davonlief oder jemand »Ha!« rief und uns umbrachte. Natürlich passierte nichts Derartiges, und sie sah mich immer noch mit dem gleichen bitter vergnügten Ausdruck an. Würde diese Frau, fragte ich mich, mit ihrem aufgestauten Groll und ihrer fachlichen Blutrache an Rossi ihn verletzt haben und hinter seinem Verschwinden stecken

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