Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
überrascht über die Freude, die ich inmitten all dieses Kummers und der Befürchtungen empfand. »Tun wir das?«
    »Ja. Ich weiß nicht, ob so etwas wie Dracula existiert, oder was es auch ist, aber ich glaube Ihnen, wenn Sie sagen, dass Rossi – mein Vater – das Gefühl hatte, in Gefahr zu sein. Das war damals ganz sicher so, und warum sollten die Ängste nicht zurückgekehrt sein, als er Ihr sonderbares Buch zu Gesicht bekam, eine zufällige, unangenehme Erinnerung an die Vergangenheit?«
    »Und was denken Sie über sein Verschwinden?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich kann ein Nervenzusammenbruch dahinter stecken. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Seine Briefe zeugen von…« – sie zögerte – »von einem logischen und furchtlosen Verstand, genau wie seine anderen Arbeiten. Man kann aus den Büchern eines Historikers einiges über ihn selbst herauslesen. Ich kenne seine sehr gut. Es sind die Ergebnisse soliden, klaren Denkens.«
    Ich führte sie zurück zu den Briefen und meiner Aktentasche. Es machte mich nervös, sie auch nur ein paar Minuten unbeobachtet zu wissen. Sie hatte alles ordentlich wieder in den Umschlag gesteckt – in der alten Ordnung, da hatte ich keinen Zweifel. Wir setzten uns nebeneinander in die Bank, fast kameradschaftlich.
    »Lassen Sie uns annehmen, dass es tatsächlich eine übernatürliche Kraft geben könnte, die mit seinem Verschwinden zu tun hat«, fing ich an. »Ich kann selbst kaum glauben, dass ich das sage, aber um das einfach einmal durchzuspielen: Was würden Sie sagen, was dann als Nächstes zu tun wäre?«
    »Nun«, sagte sie, und ihr Profil, so nah neben mir, wirkte scharf und nachdenklich. »Ich weiß nicht, wie uns das direkt weiterhelfen sollte, aber wenn man den Regeln der Dracula-Legenden folgen wollte, müsste man annehmen, dass Rossi von einem Vampir attackiert und entführt worden ist, der ihn entweder töten oder – was wahrscheinlicher ist – mit dem Fluch der Untoten infizieren wird. Drei Angriffe, die Ihr Blut mit dem von Dracula vermischen oder dem eines seiner Schüler, lassen Sie auf ewig selbst zu einem Vampir werden. Aber das wissen Sie ja. Wenn er bereits einmal gebissen wurde, müssen Sie ihn so schnell wie möglich finden.«
    »Aber warum sollte Dracula gerade hier auftauchen? Und warum sollte er Rossi entführen? Warum unterwirft er ihn sich nicht einfach, ohne die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Das ist auch im Licht der Legenden ungewöhnlich. Rossi muss… Ich meine, wenn wir es hier wirklich mit einem übernatürlichen Ereignis zu tun haben… dann muss er für Vlad Dracula von besonderem Interesse sein. Vielleicht stellt er eine Bedrohung für ihn dar.«
    »Glauben Sie, dass mein Buch und die Tatsache, dass ich es Rossi gezeigt habe, etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben?«
    »Aller Logik nach ist die Idee absurd, aber…« Sie legte ihre Handschuhe sorgsam auf ihren schwarzen Rock. »Ich frage mich, ob wir irgendwelche Informationsquellen übersehen haben.« Ich dankte ihr stumm für das »wir«.
    »Was könnte das sein?«
    Sie seufzte und nahm die Handschuhe wieder hoch. »Meine Mutter.«
    »Ihre Mutter? Aber was sollte sie – « Ich hatte gerade mit meiner Frage begonnen, als mich eine Veränderung im Licht und ein leichter Luftzug aufblicken ließen. Von unserem Platz aus konnten wir die Kirchentür sehen, ohne von dort aus gleich im Blick zu sein. Von hier aus hatte ich auch Helen erwartet. Eine Hand erschien zwischen den Türflügeln, dann ein knochiges, spitzes Gesicht. Der seltsam aussehende Bibliothekar stierte in die Kirche.
    Ich kann dir das Gefühl nicht beschreiben, das dort in der ruhigen Kirche in mir hochkroch, als das Gesicht des Bibliothekars in der Türe auftauchte. Er schien mir plötzlich ein spitznasiges Tier zu sein, das verstohlen in den Ecken herumschnüffelt, ein Wiesel oder eine Ratte. Helen neben mir blickte erstarrt zur Türe hinüber. Der Kerl musste jeden Moment unsere Witterung aufnehmen. Aber wir hatten, wie ich annahm, noch ein, zwei Sekunden, und mit der einen Hand griff ich nach meiner Aktentasche und den Dokumenten, mit der anderen fasste ich Helen – es war keine Zeit, um nach Erlaubnis zu fragen – und zog sie aus der Bank ins Seitenschiff. Dort stand eine Tür offen, die in einen kleinen Raum führte, und wir schlüpften hinein. Die Tür ließ sich geräuschlos schließen, war aber von innen nicht

Weitere Kostenlose Bücher