Der Historiker
spürte, wie ich rot wurde.
»Ich kann Sie nicht so nach Hause gehen lassen, mit dem Wissen, dass Sie verfolgt werden – oder in die Bibliothek. Und ich denke, wir haben noch einiges zu besprechen. Mich würde interessieren, was Sie glauben, was Ihre Mutter – «
»Darüber können wir gleich hier reden«, sagte sie, mit kalter Stimme, wie es mir vorkam. »Was den Bibliothekar angeht, so bezweifle ich, dass er mir bis in mein Zimmer folgen könnte, es sei denn…« Hatte Sie da ein Grübchen seitlich auf ihrem strengen Kinn, oder war es Sarkasmus? »Es sei denn, er kann sich bereits in eine Fledermaus verwandeln. Wissen Sie, unsere Hausmutter lässt keine Vampire zu uns ins Zimmer. Oder auch Männer, was das angeht. Im Übrigen hoffe ich, dass er mir zurück in die Bibliothek folgt.«
»Sie hoffen, dass er…« Ich war perplex.
»Ich wusste, dass er hier nicht mit uns sprechen würde, hier in der Kirche. Er wartet wahrscheinlich draußen auf uns. Ich habe noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen« – wieder dieses außergewöhnliche Englisch –, »weil er sich in meine Bibliotheksangelegenheiten mischt. Dazu kommt, dass Sie glauben, er habe Informationen über das Verschwinden von meinem… von Professor Rossi. Warum sollte ich da nicht zulassen, dass er mir folgt? Über meine Mutter können wir unterwegs reden.« Ich muss mehr als zweifelnd gewirkt haben, denn sie lachte plötzlich und zeigte ihre weißen, ebenmäßigen Zähne. »Er wird Sie im hellen Tageslicht nicht gleich anfallen, Paul.«
21
Vor der Kirche war von dem Bibliothekar nichts zu sehen. Wir schlenderten zur Bibliothek hinüber, und mein Herz klopfte wie wild, auch wenn Helen gelassen wirkte. Wir hatten beide ein Kruzifix in der Tasche. »Nehmen Sie eines für fünfundzwanzig Cent«, hatte auf einem kleinen Schild gestanden. Zu meiner Enttäuschung kam Helen nicht auf ihre Mutter zu sprechen. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich nur vorübergehend auf meine Verrücktheit einließ und verschwinden würde, sobald wir die Bibliothek erreicht hatten, aber sie überraschte mich ein weiteres Mal.
»Er ist hinter uns«, sagte sie ruhig, zwei Blocks von der Kirche entfernt. »Ich habe ihn gesehen, als wir um die Ecke kamen. Drehen Sie sich nicht um.« Ich unterdrückte einen Aufschrei, und wir gingen weiter. »Ich werde in einen der oberen Lesesäle gehen. Wie wäre es mit dem sechsten Stock? Da ist es wirklich absolut ruhig. Kommen Sie nicht mit mir. Wenn ich allein bin, folgt er wahrscheinlich eher mir als Ihnen – Sie sind stärker.«
»Das werden Sie auf keinen Fall tun«, flüsterte ich. »Nach Rossi zu forschen ist meine Sache.«
»Und absolut auch meine«, flüsterte sie zurück. »Glauben Sie nicht, dass ich Ihnen damit einen Gefallen tun will, Mr Holland-Handel.«
Ich sah sie von der Seite an. Ich gewöhnte mich langsam an ihren rauen Humor, und etwas an der Wölbung dieser Wange neben der langen geraden Nase wirkte fast schon verspielt und amüsiert. »Also gut. Aber ich bleibe dicht hinter ihm, und wenn Sie in Schwierigkeiten kommen, bin ich im Bruchteil einer Sekunde da und helfe Ihnen.«
Am Eingang der Bibliothek trennten wir uns demonstrativ herzlich. »Viel Glück bei Ihrer Arbeit, Mr Holland«, sagte Helen und schüttelte meine Hand.
»Ihnen dasselbe, Miss – «
»Pssst«, sagte sie und ging davon. Ich schlenderte zum Katalog hinüber und zog einen der vielen Karteikästen heraus, um beschäftigt zu wirken: »Ben Hur bis benediktinisch«. Mit gebeugtem Kopf verfolgte ich, wie Helen an der Information stand und auf eine Benutzererlaubnis für die Lesesäle wartete. Sie sah groß und schlank in ihrem schwarzen Mantel aus, entschlossen hielt sie der großen Halle den Rücken zugekehrt. Dann sah ich, wie der Bibliothekar auf der gegenüberliegenden Seite der Halle entlangschlich und sich am anderen Ende des Katalogs herumdrückte. Er war bei »H« angekommen, als Helen zur Tür zu den Lesesälen ging. Ich kannte diese Tür sehr genau, fast täglich ging ich durch sie hindurch, doch nie zuvor hatte sie für mich Ähnliches bedeutet wie heute. Sie stand den ganzen Tag über offen, nur ein Wärter überprüfte die Benutzerausweise. In diesem Moment verschwand Helen die eisernen Treppenstufen hinauf. Der Bibliothekar blieb noch kurz bei »G« stehen, fuhr dann mit der Hand in die Tasche seines Jacketts – er muss einen speziellen Ausweis haben, dachte ich –, zeigte dem Wärter eine Karte und verschwand ebenfalls nach
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