Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
Vom Netzwerk:
Hand, schwang herum wie ein Skorpion und bog meine Hand nach hinten, die seine Schulter hielt. Der Schmerz war so unerträglich stark, dass ich meinen Arm zurückzog, und ehe ich noch recht begriff, was da vorging, war er auch schon entwischt. Ich folgte ihm die Treppen hinunter, vorbei an den Studenten und den ruhigen Gefilden des Wissens. Aber meine Aktentasche, die ich immer noch in der Hand hielt, behinderte mich. Selbst während des ersten Impulses, dem Mann zu folgen, hatte ich sie, wie ich flüchtig feststellte, nicht zurücklassen oder Helen zuwerfen wollen. Sie hatte ihm von der Karte erzählt. Sie war eine Verräterin. Und er hatte sie gebissen, wenn auch nur kurz. Würde sie jetzt nicht selbst verderben?
    Zum ersten und letzten Mal rannte ich durch die Bibliothekshalle und sah kaum die erstaunten Gesichter, die sich mir zuwandten, als ich dahineilte. Vom Bibliothekar keine Spur. Er konnte auch nach hinten hinter die Kulissen entwischt sein, wie ich verzweifelt begriff, in irgendein Katalogisierverlies oder einen Besenschrank, zu dem nur Angestellte Zugang hatten. Ich stieß die schwere Eingangstür auf, eine Öffnung in dem großen zweiflügeligen neugotischen Tor zur Bibliothek, das nie ganz geöffnet wurde. Auf den Stufen draußen blieb ich stehen. Das Nachmittagslicht blendete mich so, als hätte auch ich in der Unterwelt gelebt, einer Höhle voller Fledermäuse und Nager. Auf der Straße vor mir hatten einige Wagen angehalten. Der Verkehr war offenbar zum Erliegen gekommen, und ein Mädchen in Kellnerinnenuniform stand heulend auf dem Bürgersteig und zeigte vor sich auf die Straße. Jemand rief etwas, und paar Männer knieten sich vor das Vorderrad eines Wagens, der dort stand. Die Beine des wieseligen Bibliothekars ragten in einem unmöglichen Winkel unter dem Auto hervor. Sein einer Arm war über den Kopf geschleudert. Er lag auf dem Pflaster mit dem Gesicht nach unten in einer kleinen Lache Blut und war für immer dahingegangen.

 
    22
     
     
     
    Mein Vater wollte mich nicht mit nach Oxford nehmen. Sechs Tage werde er da sein, sagte er, so lange solle ich nicht schon wieder die Schule verpassen. Es überraschte mich, dass er bereit war, mich allein zu Hause zu lassen. Seit ich das Drachenbuch gefunden hatte, war er nicht mehr ohne mich weggefahren. Plante er womöglich, für die Zeit seiner Abwesenheit besondere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen? Ich sagte, dass unsere Reise die jugoslawische Küste entlang fast zwei Wochen gedauert habe, ohne ersichtlichen Schaden für meine schulischen Leistungen. Er sagte, die Ausbildung komme stets zuerst. Aber hatte er nicht immer behauptet, dass Reisen die beste Ausbildung sei? Zudem war der Mai ein vortrefflicher Reisemonat. Ich holte mein letztes Zeugnis hervor, das vor guten Noten nur so strahlte, und eine Geschichtsprüfung, unter die mein Lehrer – ziemlich schwülstig – geschrieben hatte: »Die Arbeit zeugt von außergewöhnlichem Verständnis für die Natur geschichtlicher Forschung, besonders für jemanden in deinem Alter.« Ich kannte den Satz auswendig und wiederholte ihn vor dem Schlafengehen oft wie ein Gebet.
    Mein Vater geriet sichtlich ins Schwanken und legte Messer und Gabel so hin, dass ich wusste, es war nur eine kleine Pause, die er da in unserem alten holländischen Esszimmer einlegte, das Essen war damit noch nicht beendet. Er sagte, seine Arbeit werde es ihm nicht erlauben, mir Oxford richtig zu zeigen, und er wolle meinen ersten Eindruck von dieser Stadt nicht dadurch beeinträchtigen, dass er mich irgendwo eingesperrt wisse. Ich sagte, ich sei lieber irgendwo in Oxford eingesperrt als hier zusammen mit Mrs Clay, wobei ich die Stimme senkte, obwohl sie ihren freien Abend hatte. Im Übrigen sei ich alt genug, mich allein umzusehen. Er sagte, er wisse nicht, ob es eine gute Idee sei, dass ich mitkäme, da die Gespräche ziemlich… angespannt zu werden versprächen. Es würde vielleicht nicht ganz… Aber er brach ab, und ich wusste warum. Genau wie ich nicht mein wirkliches Argument benutzen konnte, warum ich nach Oxford wollte, konnte er seines nicht bringen, um mich davon abzuhalten. Ich vermochte ihm auch nicht zu sagen, dass ich es nicht würde ertragen können, ihn mit seinen dunklen Ringen unter den Augen und der erschöpften Haltung von Schultern und Kopf so lange allein zu lassen. Und er konnte nicht laut aussprechen, dass er in Oxford womöglich nicht sicher war und ich somit auch nicht. Er schwieg für eine Weile und fragte

Weitere Kostenlose Bücher