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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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erzählen, die ich kürzlich gesehen habe.«
    Mir rutschte das Herz sämtliche sechs Etagen auf einmal hinunter. Die Karte? Was tat Helen da? Warum gab sie ein so wichtiges Stück Information preis? Diese Karte war vielleicht unser gefährlichster Besitz, wenn Rossis Einschätzung ihrer Bedeutung stimmte, und auch unser wichtigster. Mein gefährlichster Besitz, korrigierte ich mich. Spielte Helen ein falsches Spiel? Ich sah es schlagartig vor mir: Sie wollte mit Hilfe der Karte als Erste zu Rossi gelangen, seine Recherchen zu Ende führen und mir dabei alles entlocken, was er mir erzählt hatte, es veröffentlichen, ihn bloßstellen – mehr Zeit als für diese flüchtige Überlegung blieb mir nicht, denn jetzt stieß der Bibliothekar ein Brüllen aus. »Die Karte! Du hast Rossis Karte! Dafür bringe ich dich um!« Ein Keuchen von Helen war zu hören, dann ein Schrei und ein Schlag. »Tu das weg!«, schrie der Bibliothekar.
    Meine Füße berührten den Boden erst wieder, als ich oben auf dem Kerl saß. Sein kleiner Kopf schlug mit einem Knall auf den Boden, dass mir selbst auch Hören und Sehen verging. Helen kniete sich neben mich. Sie war weiß wie ein Leintuch, aber ruhig. In der Hand hielt sie das silberne Kruzifix, das wir in der Kirche gekauft hatten, und reckte es weiter in seine Richtung, während er unter mir kämpfte und spuckte. Der Bibliothekar war schwächlich, und ich konnte ihn leicht ein paar Minuten unten halten – was mein Glück war, denn die letzten drei Jahre über hatte ich brüchige alte holländische Urkunden in der Hand gehabt und keine Gewichte gestemmt. Der Kerl wand sich unter mir, aber ich drückte ihm mein Knie auf die Beine. »Rossi!«, kreischte er. »Das ist nicht fair! Ich hätte statt seiner gehen sollen. Ich war an der Reihe! Gib mir die Karte! Ich habe so lange darauf gewartet – zwanzig Jahre habe ich geforscht und gearbeitet!« Er fing an zu schluchzen, es war ein Mitleid erregendes, hässliches Geräusch. Während er seinen Kopf hin und her warf, konnte ich die doppelte Wunde am Rand seines Kragens sehen, zwei verkrustete Dornenlöcher. Ich hielt meine Hände so weit wie möglich davon entfernt.
    »Wo ist Rossi?«, knurrte ich. »Sagen Sie uns sofort, wo er ist. Haben Sie ihm etwas angetan?« Helen hielt das kleine Kreuz noch etwas dichter über ihn, und er drehte das Gesicht weg und krümmte sich unter meinen Knien. Selbst in dieser Situation erstaunte es mich, die Wirkung dieses Symbols auf diese Kreatur zu beobachten. War das Hollywood, Aberglaube oder Geschichte? Ich fragte mich, wie es ihm möglich gewesen war, in die Kirche zu gehen. Aber da hatte er sich vom Altar und allen Kreuzen fern gehalten und war sogar vor der alten Frau zurückgeschreckt.
    »Ich habe ihn nicht angerührt! Ich weiß nichts über ihn.«
    »Oh doch, das tun Sie.« Helen beugte sich noch näher. Ihr Blick war fest, aber sie war sehr, sehr blass, und jetzt bemerkte ich, dass sie sich die freie Hand auf den Hals drückte.
    »Helen!«
    Ich muss laut gekeucht haben, aber sie winkte ab und starrte auf den Bibliothekar. »Wo ist Rossi? Worauf haben Sie jahrelang gewartet?« Er zuckte zurück. »Ich halte Ihnen das hier jetzt direkt ins Gesicht«, sagte Helen und senkte das Kruzifix.
    »Nein!«, schrie er. »Ich sage ja alles. Rossi wollte nicht gehen. Ich wollte. Es ist nicht fair. Er nahm Rossi und nicht mich! Mit Gewalt hat er ihn mitgenommen, dabei wäre ich freiwillig mit ihm gegangen, um ihm zu dienen, zu helfen, aufzulisten…« Damit brach er abrupt ab.
    »Was?« Ich ließ seinen Kopf nochmals leicht auf den Boden schlagen. »Wer hat Rossi mitgenommen? Halten Sie ihn irgendwo gefangen?«
    Helen hielt ihm das Kreuz jetzt direkt vor die Nase, und er fing wieder an zu schluchzen. »Mein Meister«, wimmerte er. Helen atmete neben mir tief durch und setzte sich zurück auf die Fersen, als pralle sie unfreiwillig vor seinen Worten zurück.
    »Wer ist Ihr Meister?« Ich grub mein Knie tief in sein Bein. »Und wohin hat er Rossi gebracht?«
    Seine Augen brannten auf. Es war ein erschreckender Anblick – diese Verzerrung, ein normales menschliches Antlitz, das zum Hieroglyphen des Fürchterlichen, des Bösen wurde. »Wohin ich hätte dürfen sollen! Zum Grab!«
    Vielleicht lockerte sich mein Griff für einen Moment, oder vielleicht gab ihm auch sein Geständnis plötzlich Kraft – wahrscheinlich war es die Todesangst um sich selbst, wie ich später begriff. Auf jeden Fall befreite er plötzlich eine

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