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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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oben.
    Ich eilte zum Informationsschalter. »Ich muss in die Lesesäle, bitte«, sagte ich zu der Dienst habenden Frau. Ich hatte sie noch nie gesehen, sie war äußerst langsam, und ihre kleinen runden Hände schienen eine wahre Ewigkeit mit den Scheinen herumzufummeln, bis sie mir endlich einen gab. Schon war auch ich durch die Tür und setzte vorsichtig einen Fuß auf die Treppe, den Blick nach oben gerichtet. Durch die Metallstufen konnte man jeweils einen Stock höher sehen, aber nicht weiter. Kein Zeichen vom Bibliothekar über mir. Kein Geräusch.
    Ich schlich mich in den ersten Stock, vorbei an den Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie. Im zweiten Stock war niemand bis auf ein paar Studenten in ihren Kojen. Im dritten Stock kam Angst in mir auf. Es war zu ruhig. Niemals hätte ich Helen hier allein als Köder hinauflassen dürfen. Plötzlich fiel mir Rossis Geschichte von seinem Freund Hedges ein, und ich beschleunigte meine Schritte. Der vierte Stock – Archäologie und Anthropologie – war voller Studenten, die an einer Art Arbeitsgemeinschaft teilnahmen und sotto voce ihre Aufzeichnungen verglichen. Ihre Anwesenheit erleichterte mich etwas; nichts allzu Ruchloses würde da nur zwei Stockwerke höher stattfinden. Im fünften Stock hörte ich Schritte über mir, und im sechsten dann – Geschichte – zögerte ich. Ich war unsicher, ob ich hineingehen und meine Anwesenheit verraten sollte.
    Wenigstens kannte ich diese Etage gut. Sie war mein Reich, und ich hätte dir den genauen Ort jeder einzelnen Koje und jedes Stuhls benennen können, jede Reihe übergroßer Bücher. Zunächst schien mir die Geschichte so ruhig zu sein wie die anderen Stockwerke, aber nach einer Weile hörte ich gedämpftes Sprechen aus einer der hinteren Ecken des Saals. Leise schlich ich in diese Richtung, vorbei an Babylon und Assyrien und immer darauf bedacht, so geräuschlos wie möglich voranzukommen. Jetzt erkannte ich Helens Stimme, ich war sicher, es war Helen, dann eine unangenehm kratzende Stimme, die dem Bibliothekar gehören musste. Mein Herz überschlug sich. Sie waren in der Mittelalter-Abteilung – ich kannte das alles so gut hier, und ich kam nahe genug heran, um zu verstehen, was sie sagten, wenn ich es auch nicht riskieren wollte, um das Ende des nächsten Regals herumzusehen. Sie schienen rechts auf der anderen Seite davon zu sein. »Stimmt das?«, fragte Helen in feindlichem Ton.
    »Sie haben kein Recht, in diesen Büchern herumzustöbern, junge Dame«, kam wieder die kratzende kleine Stimme.
    »Diesen Büchern? Universitätseigentum? Wer sind Sie, dass Sie Bücher der Universitätsbibliothek beschlagnahmen dürfen?«
    Die Stimme des Bibliothekars klang gleichzeitig zornig und bettelnd. »Es besteht überhaupt kein Grund, dass Sie mit diesen Büchern herumspielen. Das ist nichts, was eine junge Dame lesen sollte. Geben Sie die Bücher heute noch zurück, und das Thema ist damit beendet.«
    »Warum brauchen Sie die Bücher so unbedingt?« Helens Stimme war fest und klar. »Hat es vielleicht etwas mit Professor Rossi zu tun?«
    Ich kauerte hinter dem englischen Feudalismus und wusste nicht, ob ich stöhnen oder laut Beifall klatschen sollte. Was immer Helen von dieser Geschichte sonst noch denken mochte, sie schien von ihr überzeugt. Ganz offenbar hielt sie mich nicht für verrückt. Und sie wollte mir helfen, wenn es ihr natürlich auch darum ging, Informationen für sich selbst zu gewinnen.
    »Professor… wer? Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, bellte der Bibliothekar.
    »Wissen Sie, wo er ist?«, fragte Helen mit scharfer Stimme.
    »Junge Dame, ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Aber Sie müssen diese Bücher zurückgeben, die Bibliothek braucht sie für andere Zwecke – oder Sie werden mit Folgen für Ihre akademische Karriere rechnen müssen.«
    »Meine Karriere?«, spottete Helen. »Ich kann diese Bücher unmöglich jetzt zurückgeben. Ich brauche sie für eine wichtige Arbeit.«
    »Dann werde ich Sie zwingen müssen, sie zurückzugeben. Wo sind sie?« Ich hörte einen Schritt, als wiche Helen zurück, und war schon drauf und dran, hinter dem Regal hervorzukommen und einen Folianten über Zisterzienserklöster auf das elende kleine Wiesel niedersausen zu lassen, als Helen plötzlich einen neuen Spielzug eröffnete.
    »Hören Sie zu«, sagte sie. »Wenn Sie mir etwas über Rossi sagen, könnte ich Ihnen womöglich etwas über eine kleine… « – sie hielt kurz inne –, »eine kleine Karte

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