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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Haar und einer knubbeligen Narbe auf einem der Wangenknochen. Mir gefiel sein warmer Händedruck und der Ausdruck in seinen großen, ziemlich vorstehenden braunen Augen. Er schien nichts Seltsames daran zu finden, dass ich meinen Vater zu der Konferenz begleitete, und schlug sogar vor, dass ich das College am Nachmittag mit einer studentischen Hilfskraft besichtigte. Mein Vater sagte, das könne ich sicher, er selbst werde mit Besprechungen zu tun haben, und warum sollte ich mir die Schätze des Colleges nicht ansehen, wo ich schon einmal hier war?
    Eifrig stand ich um drei Uhr bereit und hielt meine neue Mütze in der einen und ein Notizbuch in der anderen Hand, da mein Vater vorgeschlagen hatte, dass ich mir Verschiedenes aufschreiben und später daraus einen Aufsatz für die Schule machen sollte. Mein Begleiter war ein blonder, schlaksiger Student, den Rektor James mir als Stephen Barley vorstellte. Ich mochte Stephens feine, blau geäderte Hände und den robusten Seemannspullover, den er, als ich ihn laut bewunderte, jumper nannte. Stephen gab mir das Gefühl, vorübergehend in diese besondere Gemeinschaft aufgenommen zu sein, um an seiner Seite über das Collegegelände streifen zu dürfen. Und er verschaffte mir auch eine erste Ahnung sexueller Anziehung und das flüchtige Gefühl, wenn ich nur meine Hand in seine schöbe, während wir durch das College wanderten, würde sich irgendwo in der langen Mauer der Wirklichkeit, so wie ich sie kannte, eine Tür öffnen und nie wieder schließen. Ich habe schon erklärt, dass ich ein ausgesprochen behütetes Leben führte – so behütet, dass mir noch mit siebzehn, wie ich heute weiß, nicht bewusst war, wie eng die Grenzen um mich herum verliefen. Neben diesem gut aussehenden Studenten spürte ich mit einem Zittern so etwas wie Rebellion gegen diese Enge in mir entstehen, ein Gefühl, das wie ein Musikstück aus einer fremden Kultur in mir klang. Aber ich nahm mein Notizbuch und meine Kindheit einfach etwas fester in die Hand und fragte ihn, warum der Innenhof hauptsächlich mit Steinplatten belegt und nicht mit Gras bewachsen sei. Stephen lächelte zu mir herunter. »Nun, das weiß ich auch nicht. Das hat mich noch niemand gefragt.«
    Er führte mich in den hohen, scheunengroßen Speisesaal mit seiner Tudorbalkendecke und den langen Holztischen und zeigte mir, wo der junge Earl of Rochester etwas Unanständiges beim Essen in eine Bank geschnitzt hatte. Die Seitenwände waren voller großer bleiverglaster Fenster, jedes in der Mitte ornamentiert mit einer Szene guter Taten: Thomas Becket, der an einem Totenbett kniet; ein Priester in einem langen Gewand, der an gebückte Arme Suppe verteilt; ein Arzt, der jemandem das Bein verbindet. Über Rochesters Bank war eine Szene, die ich nicht verstand: ein Mann mit einem Kreuz um den Hals und einem Stock in der Hand, der sich über etwas beugt, das wie ein Bündel schwarzer Lumpen aussieht. »Oh ja, das ist wirklich eine Kuriosität«, erklärte Stephen Barley mir. »Wir sind sehr stolz darauf. Weißt du, dieser Mann ist ein Professor aus der frühen Zeit des Colleges, und er treibt da gerade einem Vampir eine silberne Lanze durchs Herz.«
    Ich starrte Stephen nur an, für einen Moment war ich sprachlos. Dann fragte ich: »Gab es im Mittelalter in Oxford Vampire?«
    »Ich habe keine Ahnung«, gab er lächelnd zu. »Aber man erzählt sich, dass die Gelehrten der Colleges den Menschen im Umland gegen Vampire halfen. Da ist einiges an Legenden und Geschichten über Vampire entstanden und gesammelt worden, alles seltsamer Kram – das alles findest du immer noch drüben in der Radcliffe Camera. Es heißt, die Dozenten wollten damals keine Bücher über okkulte Dinge in ihrem College haben, also wurden sie an allen möglichen anderen Orten aufbewahrt und landeten schließlich in der Radcliffe Camera.«
    Ich musste plötzlich an Rossi denken und fragte mich, ob er Einblick in diese alte Sammlung genommen hatte. »Kann man irgendwo noch die Namen von den Studenten und Doktoranden nachlesen, die früher mal hier studiert haben? Ich meine… vielleicht so vor fünfzig Jahren? Doktoranden?«
    »Ich weiß es nicht.« Mein Begleiter warf mir einen fragenden Blick zu. »Ich kann den Rektor fragen, wenn du willst.«
    »Oh nein.« Ich spürte, wie ich rot wurde, der Fluch meiner Jugend. »Es ist nicht wichtig. Aber ich würde gern… ich würde die Vampirlegenden gern einmal sehen.«
    »Du magst es gern gruselig, was?« Er sah amüsiert

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