Der Historiker
aus. »Viel gibt es da nicht zu sehen, nur ein paar alte Folianten und etliche ledergebundene Bücher. Aber okay. Wir sehen uns erst die College-Bibliothek an – die darfst du nicht verpassen –, und dann bringe ich dich in die Camera.«
Die College-Bibliothek war ein Juwel der Universität. Seit jenem unschuldigen Tag habe ich auch die meisten anderen Colleges gesehen und kenne einige von ihnen ziemlich genau, bin durch ihre Bibliotheken, Kirchen, Kapellen und Speisesäle gewandert, habe in ihren Seminarräumen unterrichtet und in ihren Salons Tee getrunken. Ich kann heute mit Sicherheit sagen, dass es nichts Vergleichbares zu dieser ersten College-Bibliothek gibt, die mir Stephen Barley damals zeigte, ausgenommen vielleicht die vom Magdalen College Chapel mit ihren herrlichen Ornamenten. Zuerst kamen wir in einen großen Lesesaal, der mit seinen Buntglasfenstern ringsum wie ein riesiges Terrarium aussah, in dem die Studenten, seltene exotische Pflanzen, an Tischen saßen, die fast so alt schienen wie das College selbst. Von der Decke herab hingen merkwürdige Lampen und enorme Globen aus der Zeit Heinrichs VIII. standen auf Sockeln in den Ecken. Stephen Barley zeigte mir die vielen Bände des Oxford English Dictionary, die die Regale einer ganzen Wand füllten. Andere waren voll mit Atlanten aus vielen Jahrhunderten, andere mit alten Adelsverzeichnissen und Werken über die englische Geschichte, wieder andere mit lateinischen und griechischen Lehrbüchern aus jeder Epoche seit der Gründung des Colleges. Im Zentrum standen eine mächtige Enzyklopädie auf einem Barockgestell mit Schnitzverzierungen und neben dem Eingang zum nächsten Raum eine Vitrine mit einem schlicht aussehenden alten Buch, das, wie Stephen mir erklärte, eine Gutenberg-Bibel war. Über uns ließ ein rundes Oberlicht wie der Oculus einer byzantinischen Kirche die Sonne hereinfallen. Die staubdurchtanzten Strahlen strichen über die Gesichter der lesenden und blätternden Studenten an den Tischen, über ihre dicken Strickpullover und ernsten Gesichter. Es war ein Paradies des Lernens, und ich betete darum, hier auch einmal zugelassen zu werden.
Der nächste Raum entpuppte sich als große Halle, bestückt mit Galerien, Wendeltreppen und einem hohen Lichtgaden aus altem Glas und Regalwänden. Jedes erdenkliche Fleckchen Wand war mit Büchern voll gestellt, vom Boden bis zur Decke, vom Steinboden bis zum Gewölbe. Ich sah ganze Felder fein gepunzter Lederrücken, Bahnen von Dokumentenmappen und wahre Heerscharen kleiner dunkelroter Bände aus dem neunzehnten Jahrhundert. Was, fragte ich mich, konnte in all diesen Büchern stehen? Würde ich irgendetwas davon verstehen? Es juckte mir in den Fingern, ein paar von ihnen aus den Regalen zu ziehen, aber ich traute mich nicht einmal, einen der Rücken zu berühren. Ich war mir nicht sicher, ob es sich um eine Bibliothek oder ein Museum handelte. Meine Gefühle müssen mir klar vom Gesicht abzulesen gewesen sein, denn plötzlich sah ich, wie mein Begleiter mich amüsiert anlächelte. »Nicht schlecht, was? Du musst ein ziemlicher Bücherwurm sein. Also dann – das Beste hast du gesehen, gehen wir hinüber in die Camera.«
Das helle Tageslicht und die lauten, dahinrasenden Autos vertrugen sich noch weniger als sonst mit der gedämpften Atmosphäre der Bibliothek, die wir gerade verlassen hatten. Dennoch musste ich ihnen für ein plötzliches Geschenk danken, denn als wir uns durch den Verkehr fädelten, griff Stephen nach meiner Hand und zog mich hinter sich in Sicherheit. Vielleicht war er der strenge ältere Bruder von jemandem, dachte ich. Die Berührung seiner trockenen, warmen Haut sandte ein heißes, prickelndes Gefühl in meine Hand, das auch noch weiterglühte, als er sie längst wieder losgelassen hatte. Ich war jedoch sicher, als ich verstohlen auf sein munteres, unverändertes Profil sah, dass diese Nachricht nur in eine Richtung geflossen war. Aber es genügte mir, dass ich sie empfangen hatte.
Wie alle England Liebenden wissen, ist die Radcliffe Camera einer der Perlen englischer Architektur – schön und seltsam, ein riesiges Fass voller Bücher. Die Bibliotheksrotunde grenzt fast an die Straße, ist aber im Übrigen von einer großen Rasenfläche umgeben. Wir traten sehr leise ein, obwohl eine munter redende Touristengruppe die Mitte des großartigen Runds füllte. Stephen machte mich auf verschiedene architektonische Besonderheiten aufmerksam, wie sie in jedem Kurs über englische
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