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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Kostova
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Ängste beschwichtigte. »Seine Reaktion war ziemlich interessant, meinen Sie nicht?«
    Sie nickte. »Er sagte, dass man ihn hätte zum Grab lassen sollen, dass aber Rossi von jemandem hingebracht wurde. So merkwürdig es ist, aber er schien tatsächlich etwas über den Aufenthaltsort meines… Ihres Doktorvaters zu wissen. Ich kann nicht wirklich an diese Drakulya-Sache glauben, aber vielleicht ist Professor Rossi von ein paar komischen Okkultisten entführt worden, irgendetwas in der Art.«
    Damit war es an mir, zu nicken, obwohl ich offensichtlich geneigter war, die Sache ernst zu nehmen.
    »Was werden Sie jetzt tun?«, fragte sie neugierig distanziert.
    Meine Antwort kam, ohne dass ich wirklich darüber nachgedacht hätte. »Nach Istanbul fahren. Ich bin überzeugt, dass es dort mindestens ein Dokument gibt, das Rossi nie in die Hände bekommen hat, und dass sich darin womöglich Informationen über ein Grab finden, vielleicht Draculas Grab beim Snagov-See.«
    Sie lachte. »Warum machen Sie nicht einen kleinen Urlaub in meinem hübschen Rumänien? Sie könnten Draculas Schloss besichtigen, mit einem Silberpflock in der Hand, oder ihn gleich selbst in Snagov besuchen. Soll ein schöner Platz für ein Picknick sein.«
    »Hören Sie«, sagte ich gereizt. »Ich weiß, das ist alles äußerst eigentümlich, aber ich muss unbedingt alle Spuren verfolgen, die mit Rossis Verschwinden zu tun haben. Im Übrigen wissen Sie ganz genau, dass man als amerikanischer Staatsbürger nicht so einfach durch den Eisernen Vorhang gelangen und nach jemandem suchen kann.« Meine Treue zu Rossi schien sie zu beschämen, aber sie sagte kein Wort. »Ich möchte Sie etwas fragen: Als wir aus der Kirche gingen, meinten Sie, Ihre Mutter wüsste womöglich etwas über Rossis Jagd auf Dracula zu sagen. An was dachten Sie dabei?«
    »Ich meinte nur, dass er ihr, als sie sich kennen lernten, erklärte, er sei in Rumänien, um die Volksmärchen über Dracula zu studieren, und sie selbst glaubte fest an diese Legenden. Vielleicht weiß sie mehr über das, was er damals in Erfahrung brachte, als sie mir erzählt hat – ich bin nicht sicher. Sie spricht nicht gern darüber, und ich habe dieses kleine Steckenpferd unseres lieben Pater familias auf akademische Weise verfolgt, nicht über Familienbande. Ich hätte sie mehr nach ihren eigenen Erfahrungen fragen sollen.«
    »Ein seltsames Versehen für eine Anthropologin«, erwiderte ich launisch. Jetzt, wo ich wieder glaubte, dass sie auf meiner Seite war, empfand ich den Verdruss der Erleichterung. Ihr Gesicht erhellte sich.
    »Touché, Sherlock. Das nächste Mal, wenn ich sie sehe, werde ich sie fragen.«
    »Wann wird das sein?«
    »In ein paar Jahren, nehme ich an. Mein wertvolles Visum erlaubt mir nicht, locker zwischen Ost und West hin und her zu pendeln.«
    »Rufen Sie Ihre Mutter nie an oder schreiben ihr?«
    Sie sah mich an. »Oh, der Westen ist so ein unschuldiger Ort«, sagte sie endlich. »Denken Sie, sie hat Telefon? Und glauben Sie, meine Briefe werden nicht alle geöffnet und vorher gelesen?«
    Ich schwieg geschlagen.
    »Was soll das für ein Dokument sein, nach dem Sie so eifrig suchen, Sherlock?«, fragte sie. »Meinen Sie die Bibliografie, etwas über den Drachenorden? Sie war der letzte Punkt seiner dritten Aufzeichnung und das Einzige, was er nicht beschrieben hat. Sind Sie hinter der her?«
    Natürlich vermutete sie richtig. Ich bekam langsam einen genaueren Eindruck von ihren intellektuellen Fähigkeiten und dachte etwas wehmütig an die Gespräche, die wir unter angenehmeren Umständen hätten führen können. Andererseits mochte ich ihre Herumstocherei nicht. »Warum wollen Sie das wissen?«, konterte ich. »Geht es Ihnen dabei um Ihre eigene Forschungsarbeit?«
    »Natürlich«, sagte sie schroff. »Melden Sie sich, wenn Sie wieder da sind?«
    Plötzlich fühlte ich mich sehr müde. »Wieder da sind? Ich habe keine Ahnung, auf was ich mich da einlasse, geschweige denn, wann ich wieder hier sein werde. Vielleicht werde ich selbst von einem Vampir erwischt, wenn ich dort ankomme – wo immer das sein wird.«
    Es sollte ironisch klingen, aber die Unwirklichkeit der ganzen Situation holte mich bereits wieder ein. Wie schon Hunderte Male zuvor stand ich auf dem Bürgersteig vor der Universitätsbibliothek, nur dass ich mich heute mit einer rumänischen Anthropologin über Vampire unterhielt – so, als glaubte ich an sie –, und gemeinsam beobachteten wir, wie Sanitäter und

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