Der Hochzeitsvertrag
waren ein klein wenig vergilbt und die Möbel etwas verstaubt, doch im Großen und Ganzen sah der helle Raum mit der Stuckdecke noch immer so aus wie damals, als sie mit ihrem Vater hierher gekommen war.
Wie privilegiert und erwachsen sich Emily damals gefühlt hatte, weil sie als einziges Mädchen in Bournesea Zutritt zu den Privatgemächern der bettlägerigen Countess gehabt hatte!
So viele Jahre nach dem Tod von Nicholas' Mutter wieder in diesem Zimmer zu sein war für Emily äußerst aufwühlend. Sie war so oft hier gewesen, dass ihr dieser Raum sehr vertraut vorkam. Doch viel deutlicher als früher wurde ihr nun ihr gesellschaftlicher Rang bewusst, der weit unter dem einer Adeligen lag.
Wie töricht war sie doch als junges Mädchen gewesen, als sie geglaubt hatte, ihr Jugendfreund, der jetzige Earl of Kendale würde sie heiraten! Gerechterweise musste Emily zugeben, dass Nicholas ihr nie etwas versprochen hatte. Aber er hatte sie dazu gebracht, anzunehmen, dass er sie liebte. Was Nicholas damals wirklich für Absichten gehegt hatte, das hatte sie nur raten können. Und zu meinem großen Unglück bin ich davon ausgegangen, dass sie ehrenwerter Art sind.
Die Situation, in die ich mich gebracht habe, ist wirklich unerträglich peinlich, dachte sie. Wäre ich doch nur nicht allein in Lord Kendales Haus gekommen! Jener Seemann, der sie vorhin daran gehindert hatte, Joshua einen kurzen Besuch abzustatten, hatte ihr auf den Kopf zugesagt, dass sie aus dem niedrigsten aller vorstellbaren Motive hierher gekommen sei. Darüber war sie äußerst erzürnt gewesen.
"Kümmern Sie sich gut um Mylord", hatte er bedeutungsvoll bemerkt und sie spöttisch gemustert. "Er könnte schon ein bisschen Mitgefühl brauchen."
Wegen seines abschätzigen Blicks hätte Emily den Mann am liebsten geohrfeigt. Stattdessen hatte sie ihn nur verächtlich angesehen und war dann nach oben geeilt. Von Seemännern konnte sie keine Manieren erwarten, das war ihr klar. Dennoch beunruhigte sie, dass sicher noch vor der Abenddämmerung auch jede gesittete Dame in Bournesea glaubte, sie besuchte Nicholas aus höchst unmoralischen Gründen.
Bevor er nach Indien verschwunden war, hatte Nicholas sie schon einmal kompromittiert. Es war schrecklich gewesen. Auch damals hatte sie selbst zu ihrem Elend beigetragen: Sie hatte ihn nicht daran gehindert, sie zu küssen. Beim Gedanken daran seufzte sie tief auf.
Emily wusste, dass es sündig war, aber sie bewahrte die Erinnerung an diesen leidenschaftlichen Kuss in ihrem Herzen wie einen kostbaren Schatz. Sie war alles, was ihr von Nicholas geblieben war, alles, was ihr von ihm bleiben würde. Und sie hatte ihn so sehr geliebt.
Es war gut, dass ihre Liebe zu ihm sich im Lauf der Jahre in Abneigung gewandelt hatte. Hassen konnte sie ihn noch immer nicht, egal, wie sehr sie sich darum bemüht hatte, wie sehr sie es noch immer versuchte. Sie hatte Nicholas die Schuld an den Folgen des Kusses gegeben. Und dies hatte ihr über die Erkenntnis hinweggeholfen, dass er sie nicht geliebt hatte. All die Jahre über hatte sie allein die Konsequenzen aus seinem Fehlverhalten ziehen müssen. Dies würde ihr nun dabei helfen, eine gewisse Distanz zwischen ihnen zu wahren.
Wieder seufzte sie. Als käme es darauf an. Denn ihr Ruf würde, egal, wie sie sich während ihres Aufenthalts in Bournesea Manor verhielt, ruiniert sein. Aber sie hatte ihren Stolz. Gleichgültig, was die Menschen von ihr dachten – sie könnte mit reinem Herzen vor ihren Schöpfer treten.
Vermutlich hätte sie sich aus diesem Grund sogar freiwillig unter Quarantäne stellen lassen, wenn Nicholas ihr die Wahl gelassen hätte. Die Gefahr, die Cholera nach draußen zu tragen, war einfach zu groß. Trotzdem war ihre Situation nur als äußerst unglücklich zu bezeichnen. Kein Mann würde sie mehr umwerben. Und wer wollte schon eine Gouvernante mit ihrem Ruf beschäftigen? Ihre Zukunft sah wirklich düster aus. Wie sollte sie sich und ihre Familie nur versorgen?
Leise klopfte es an der Tür. Überrascht drehte Emily sich um. "Ja, bitte?"
Die Tür wurde geöffnet.
"Nicholas – ich meine, Mylord?" rief sie verblüfft aus. "Was wollen Sie hier? Es schickt sich nicht, dass Sie mich hier aufsuchen!"
Er hatte sich nicht einmal eine Hausjacke übergestreift. Hastig wandte Emily den Blick von seinen entblößten muskulösen Unterarmen ab.
Nicholas zögerte einen Moment, bevor er hereinkam. Dann zog er rasch die Tür hinter sich zu. Emily schien es so, als
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