Der Hof (German Edition)
wird ausgeblendet, als Mathilde sich davorstellt. Dann höre ich noch ein Geräusch. Nur ganz leise, fast wie ein Flüstern: das Kratzen von Stahl auf Stein. Und plötzlich erinnere ich mich wieder an das Schlachtermesser, das Georges vom Betonblock genommen hat.
«Wirst du es dir nicht anders überlegen?», fragt Mathilde in der Dunkelheit.
Der Moment scheint sich unendlich auszudehnen, doch dann wird das Schweigen durchbrochen. Das Geräusch kommt von draußen und wird schnell erstickt, aber wir erkennen es beide sofort.
Das Wimmern eines Kinds.
Eine hastige Bewegung, dann flutet Mondlicht in die Hütte, weil Mathilde die Tür aufreißt. Ich sehe jetzt, dass ihre Hände leer sind, und im nächsten Augenblick ist sie draußen. Ich renne hinter ihr her und erwarte fast ihren Vater mit dem Gewehr vor der Tür.
Aber nicht Arnaud steht draußen. Sondern Gretchen.
Sie hält Michel wie einen schützenden Schild an sich gedrückt. Die Hand hat sie auf seinen Mund gedrückt und umklammert ihn, während er sich gegen sie wehrt. Ein Blick in ihr Gesicht genügt. Sie hat alles gehört.
Mathilde zögert. «Gretchen …»
«Das ist nicht wahr. Du bist nicht meine Mutter.»
«Nein, natürlich nicht.» Mathilde versucht zu lächeln.
«Papa hat so was nie gemacht. Ich glaube dir nicht. Du lügst!»
«Das stimmt. Ich habe mir das ausgedacht.» Mathilde streckt die Hände aus. «Du tust Michel weh. Komm, lass mich …»
«Bleib weg!» Gretchen weicht zurück. Michel dreht sein Gesicht von ihrer Hand weg und beginnt zu weinen. Mathilde macht einen Schritt auf sie zu.
«Ich will doch nur …»
«Bleib weg!»
Noch immer hält sie Michel an sich gepresst, als sie sich umdreht und fortläuft. Ich ignoriere den Schmerz in meinem Fuß und überhole Mathilde, die sofort hinter Gretchen herjagt. Aber Gretchen hat den Sanglochonpferch bereits erreicht. Sie bleibt vor dem Pferch für den Keiler stehen und reckt Michel neben dem Zaun in die Höhe.
«Verschwinde! Ich mein’s ernst!»
Mathilde bleibt stolpernd neben mir stehen, während Gretchen Michel in die Höhe reckt. Der Eber ist nirgends zu sehen, doch das Heulen des Babys hat die Sauen im angrenzenden Pferch aufgeschreckt. Ihr lebhaftes Grunzen stimmt in den Tumult ein.
«Komm schon, Gretchen. Du willst ihm doch nicht weh tun», sage ich.
«Halt die Klappe!», kreischt sie. Ihr Gesicht ist fleckig und tränennass. «Du machst dir doch nichts aus mir, du bist genauso schlimm wie sie!»
Eine Bewegung entsteht hinter ihr im Pferch. Die Schnauze des Keilers taucht in der Öffnung seines höhlenartigen Unterstands auf. Kleine, gemeine Augen beobachten uns unter den schweren Lappen seiner Ohren hervor.
«Gretchen, bitte hör mir zu!» Sogar im Mondlicht ist Mathildes Gesicht aschfahl. «Es tut mir leid, wenn ich …»
«Nein, tut es nicht! Du lügst! Papa hat das nicht gemacht! Meine Mutter ist tot, du bist nicht meine Mutter!»
Hinter ihr ist der Keiler inzwischen vollständig im Mondlicht aufgetaucht. Er beginnt herumzulaufen und lässt uns dabei nicht aus den Augen.
«Du machst Michel Angst», sagt Mathilde. «Gib ihn mir, und dann …»
«Nein!», kreischt Gretchen. Mit einem Quieken greift der Keiler an. Er knallt gegen den Bretterzaun, und als Gretchen zurückweicht, stürze ich vor. Aber sie bemerkt mich und hält Michel mit ausgestreckten Armen wieder über den Zaun. «Geht weg!»
Ich weiche zurück. Der Keiler stößt mit dem Kopf gegen die Bretter und gerät immer mehr in Wut. Das Baby heult und tritt wild um sich.
«Nein!» Mathilde schlägt die Hand vor den Mund. «Bitte, tu das nicht! Du willst Michel doch nicht weh tun, er ist …»
«Er ist
was
? Mein Bruder?» Gretchens Zorn fällt langsam in sich zusammen, als Mathilde darauf nichts antwortet. «Das ist nicht wahr! Ich glaube dir nicht!»
Sie fängt an zu schluchzen und drückt Michel an sich. Gott sei Dank, denke ich und atme langsam wieder aus. Ich spüre, wie auch bei Mathilde die Anspannung nachlässt, als sie einen Schritt nach vorne macht.
«Komm mit zum Haus», sagt sie sanft. «Ich nehme Michel, und dann …»
Gretchens Kopf ruckt hoch.
«Hure!»
Ihr Gesicht ist vor Wut verzerrt, und sie hebt Michel wieder hoch. Die Holzplanken werden erschüttert und splittern unter dem Angriff des Keilers. Oh Gott, denke ich und will zu ihr, obwohl ich genau weiß, dass weder Mathilde noch ich sie rechtzeitig erreichen würden.
Mathilde steht mit ausgestreckten Armen einfach da. Der Mond kommt
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