Der Hof (German Edition)
hinter einer Wolke hervor und beleuchtet die Szene wie Flutlicht. «Bitte, lass mich doch nur erklären …»
«Hure! Verlogene Hure!»
«Gretchen, bitte …»
«Halt die Klappe! Ich hasse dich, ich hasse dich!»
Gretchen dreht sich zum Pferch um, und dann höre ich ein Geräusch, das wie eine Peitsche durch die Nacht knallt. Sie hält immer noch Michel und stolpert. Ich stürze zu ihr hin, als ihre Beine unter ihr nachgeben, aber Mathilde ist schneller. Sie schnappt Michel dort, wo er vor dem Pferch zu Boden fällt. Er heult, ist aber unverletzt. Sie hält ihn mir hin, und sobald ich ihn nehme, ist sie bei ihrer Tochter.
Ein dunkler Fleck breitet sich vorne auf Gretchens T-Shirt aus. Selbst jetzt verstehe ich noch nicht, was hier los ist, bis ich ein Stöhnen höre und mich umdrehe. Arnaud steht am Waldrand. Den Gewehrlauf hat er noch gegen die Schulter gedrückt, aber als ich ihn ansehe, lässt er die Waffe sinken, bis der Lauf zu Boden zeigt.
Stolpernd rennt er auf uns zu, und Mathilde kniet sich neben Gretchen. Sie liegt auf dem Rücken, und ihre Gliedmaßen zucken, während sie nach oben starrt und verwirrt blinzelt.
«Mathilde …?» Es ist die Stimme eines kleinen Mädchens, das verloren und verwirrt ist. «Mathilde, ich wollte nicht …»
«Psst. Ist schon in Ordnung. Versuch, nicht zu sprechen.» Mathilde nimmt eine ihrer Hände, und Arnaud kommt heran. Er verharrt nur kurz und berührt Michel, ehe er auf der anderen Seite neben Gretchen in die Knie geht.
«Um Himmels willen, nein …» Mein Verstand ist wie betäubt. Hilflos stehe ich daneben und halte Michel ungeschickt an mich gedrückt. Ich rede mir ein, dass die Waffe zu kleinkalibrig ist, um großen Schaden anrichten zu können. Dass sie nur für Vögel und Kaninchen tödlich ist. Aber der Blutfleck auf Gretchens T-Shirt breitet sich aus, und jetzt beginnt sie auch noch, schwarze Klumpen auszuhusten.
«Nein», sagt Mathilde, als würde sie ihre Tochter tadeln. «Nein!»
Gretchen starrt sie an. Ihre Augen sind vor Angst weit aufgerissen. Die freie Hand drückt Mathilde auf das kleine Loch in ihrer Brust. Gretchen versucht zu sprechen, aber ein Schwall helles Blut strömt aus ihrem Mund, und sie beginnt zu würgen. Sie drückt das Kreuz durch, und ihre Füße graben sich tief in den Dreck, als sie von Krämpfen geschüttelt wird. Einen Moment lang versteift sie sich und kämpft dagegen an. Dann verlässt alle Anspannung ihren Körper, und es ist vorbei.
Danach legt eine Stille sich über uns, die wie eine luftdichte Blase ist. Weder Michels Schreien noch das Grunzen des Keilers können sie durchdringen. Mathilde sitzt halb und hat ein Bein unter ihren Körper gezogen. Immer noch hält sie Gretchens Hand. Doch während Arnaud weint und das Gesicht seiner Tochter streichelt, lässt sie los.
«Es tut mir leid. Sie wollte ihn hineinwerfen, ich musste es tun», sagte Arnaud atemlos. «Oh Gott, nein. Das tut mir so leid.»
Mathilde starrt ihren Vater über Gretchens Leichnam hinweg an. Dann holt sie aus, und die Ohrfeige, die sie ihm verpasst, knallt lauter durch die Nacht als der Schuss. Er scheint es gar nicht zu bemerken, sondern wiegt sich mit dem blutigen Handabdruck auf der Wange vor und zurück.
Hinter ihnen ist der Keiler schier wahnsinnig geworden und knallt immer wieder gegen den Zaun, weil der Geruch nach Blut ihn reizt. Mathilde kommt unsicher auf die Füße. Abwesend schiebt sie sich eine Strähne hinters Ohr, doch dieses Mal ist die vertraute Geste fremd und mechanisch, und sie schmiert sich einen Streifen Blut auf die Wange. Wie betrunken wankt sie dorthin, wo Arnaud das Gewehr fallen gelassen hat.
«Mathilde», sage ich. Meine Stimme ist nur ein Krächzen.
Ich hätte genauso gut nichts sagen können. Sie hebt das Gewehr vom Boden auf und kommt zurück, kaum stabiler auf den Beinen. Ihre Hände und Arme sind bis zu den Ellenbogen in rote Handschuhe gehüllt.
«Mathilde», wiederhole ich und halte Michel weiter an mich gedrückt. Aber jetzt bin ich nicht mehr als ein Zuschauer. Sie steht über ihrem Vater, der neben Gretchen kniet. Er schaut nicht auf, als sie das Gewehr durchlädt und es an die Schulter hebt.
Ich zucke zusammen, als sie die Waffe abfeuert. Dem Schuss folgt ein Quieken des Ebers. Als ich wieder hinschaue, weint Arnaud noch immer neben seiner Tochter. Mathilde geht an ihm vorbei und feuert erneut. Dieses Mal höre ich, wie die Kugel in das Fleisch des Keilers einschlägt. Er brüllt und dreht sich im Kreis,
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