Der Hof (German Edition)
greift dann jedoch sofort wieder den Zaun an. Mathilde lädt in aller Ruhe erneut durch. Sie tritt näher an den Zaun, bis sie direkt auf den Rücken des Tiers zielen kann. Jeder Schuss wird von einem wilden Quieken begleitet, weil der Keiler unablässig den Zaun angreift. Sein dunkelgrauer Rücken ist inzwischen schwarz vom Blut, während er voller Zorn und Schmerz schreit.
Dann drückt Mathilde den Lauf des Gewehrs gegen sein Ohr und drückt den Abzug, und die Schreie des Ebers verstummen sofort.
Stille legt sich wie eine Decke um die Lichtung und die angrenzenden Pferche. Nur das leise Weinen von Arnaud zerschneidet die Stille, doch langsam dringen auch andere Laute zu mir vor. Das verängstigte Quieken der Schweine, Michels Weinen, das Rauschen der Bäume. Als der Wald rings um uns wieder zum Leben erwacht, lässt Mathilde die Waffe aus den Händen gleiten. Sie starrt ins Leere, während ihr Vater noch über Gretchens Leichnam kniet und ich ein Stück abseits stehe und davon überzeugt bin, dieser Moment werde ewig dauern.
EPILOG
Ein nebliges Nieseln, das zu leicht ist, um es Regen zu nennen, lässt die Grenze zwischen der Landschaft und den tiefhängenden grauen Wolken verschwimmen. Die Bäume an der Straße sind fast Skelette, ihre dicken Äste treten hinter den wenigen Blättern deutlich hervor. Was im Sommer Weizenfelder waren, sind jetzt nur Reihen von Stoppeln, die bald untergepflügt werden.
Den letzten Kilometer zum Hof gehe ich zu Fuß. Nachdem der Wagen mich hier abgesetzt hat, wurde mir erst bewusst, dass ich dank der Autos, die mich bis hierher mitgenommen haben, zufällig derselben Route gefolgt bin wie bei meiner ersten Ankunft. Ich bleibe stehen, als ich das Tor erreiche, das oben mit Stacheldraht besetzt ist, und blicke daran vorbei auf den vertrauten Weg, der zwischen den Rebstöcken verschwindet. Der Briefkasten, auf dem
Arnaud
steht, ist immer noch an den Pfosten genagelt, doch die weißen Buchstaben sind mehr verblasst als in meiner Erinnerung. Und das rostige Vorhängeschloss, das Unbefugte am Zutritt hindern sollte, ist durch eine stabilere Konstruktion aus Messing und Stahl ersetzt worden. Ein Schild verkündet, dass dieses Gelände jetzt im Besitz der Bank ist.
Ich reibe über die verwitterten, rostigen Stäbe des Tors, aber ich kann mich nicht überwinden drüberzusteigen. Nachdem ich jetzt hier bin, widerstrebt mir die Vorstellung weiterzugehen. Ich warte, bis ein einsamer Wagen vorbeigefahren ist, ehe ich meinen Rucksack auf die andere Seite werfe und dann über den von Rost zerfressenen Stacheldraht klettere. Der einst staubige Weg ist jetzt mit Pfützen übersät und schlammig, und ohne das schützende Blätterdach kann ich schon bald das Haus zwischen den Bäumen ausmachen. Dann mündet der Feldweg in den Innenhof, und ich sehe, wie viel Veränderung ein paar Monate ausmachen können.
Der Hof ist verlassen. Keine Hühner scharren im Dreck, als ich ihn überquere, und der Pritschenwagen und der Anhänger stehen nicht mehr vor dem Stall. Die stehengebliebene Uhr am Giebel des Stalls zeigt immer noch zwanzig vor irgendwas an, und der uralte Traktor ist auch geblieben. Er ist zu alt und klapprig, als dass es sich gelohnt hätte, ihn aus seinem vertrauten Heim zu holen. Das Haus ist verriegelt und verrammelt und sieht unter dem rostigen Gerüst noch baufälliger aus als zuvor. Der Teil der Wand, den ich wieder instand gesetzt habe, wirkt kleiner, als ich ihn in Erinnerung habe. Eine kosmetische Korrektur, die nicht verhehlen kann, wie das ganze Gebäude von Grund auf verrottet.
Ich hatte Bedenken zurückzukommen. Jetzt, wo ich hier bin, spüre ich allerdings nicht viel. Die neue Jahreszeit und die trostlose Landschaft unterscheiden sich zu sehr von meiner Erinnerung und berauben die einst so vertraute Umgebung ihrer Macht. Hier zu sein fühlt sich merkwürdig fremd an, wie ein Fiebertraum.
In den Tagen, nachdem Arnaud seiner jüngeren Tochter eine Kugel ins Herz geschossen hatte, bin ich meine Geschichte unzählige Male mit der französischen Polizei durchgegangen. Dann endlich waren sie überzeugt, dass ich ihnen alles erzählt hatte, was ich wusste, und ich durfte nach Großbritannien zurück. Ich hatte ihnen versprochen, zur Gerichtsverhandlung zurückzukommen. Verschwiegen hatte ich allerdings, dass es nicht meine Entscheidung war, ob ich kommen würde.
Nach dem Wald und den Feldern rings um den Hof wirkte London auf mich grau und dreckig. Die Welt hatte sich während meiner
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