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Der Hueter und das Kind

Der Hueter und das Kind

Titel: Der Hueter und das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vampira VA
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vorzustoßen und zu sondieren. Heute war es das mühevolle Tasten eines uralten Blinden, der in quälender Langsamkeit fremdes Terrain erforschte. Und so dauerte es eine ganze Weile, ehe Ti-mot die Schwingung wahrnahm, und noch ein kleines bißchen, bis er sie als vertraut erkannte.
    »Tanor ...«, kam es kaum verständlich über rissige Lippen.
    Das Oberhaupt der einstigen Sippe lebte also nach wie vor unter der Moschee - - und Tanor war nicht allein!
    Timot empfing eine weitere Schwingung. Sie war ihm nicht wirklich vertraut, doch er kannte auch sie - beziehungsweise jenen, der sie aussandte, den sie umflorte. Sie war voller Macht, erfüllt von einer Kraft, die einzigartig war in ihrem Volk. Und schon allein deshalb hätte Timot sie unter Hunderten zu identifizieren vermocht.
    Dennoch erstaunte es ihn, daß er nach Delhi gekommen war. Nach allem, was er angerichtet hatte .
    Timot verspürte eine Regung, die er ob seines endlosen Siechtums längst verloren geglaubt hatte.
    Neugierde.
    Und sie war nur drüben, am anderen Ufer des Ganges zu stillen.
    Sahya Patnaik konnte den Vampir, dessen Leib er teilte, nicht aufhalten, als er das Haus verließ. Auf dem Weg zur Straße hin ließ Timot den anderen, den eigentlichen Teil seines geheimnisvollen Talentes sich entfalten. Seine spezielle Kraft eilte ihm voraus und wurde zugleich an ihm wirksam. Er spürte die Veränderung. Etwas wie eine kalte Haut schob sich über sein zerstörtes Gesicht. Die Kühle vi-talisierte ihn, weckte erstorbene Energien.
    Als er auf die Straße trat, war es nicht länger ein in der Verwesung erstarrter Vampir, der in Richtung der Gangesbrücke lief. Daß sich Passanten dennoch nach ihm umwandten oder ihm gar mit angewidertem Gesicht auswichen, lag daran, daß er selbst nach der illusionären Verwandlung ein erschreckendes Bild bot.
    Sahya Patnaik kannte dieses Gefühl noch sehr gut ...
    *
    Italien
    »Nun iß doch, mein Kleiner, hm?«
    Livia Mazzano ließ sich behutsam, als könnte eine allzu hastige Bewegung den Knaben erschrecken, auf dem freien Stuhl neben ihm nieder.
    Der Junge hielt den Löffel über den dampfenden Suppenteller, saß reglos an dem grob gezimmerten Küchentisch, wie versteinert. Erst als ihm die Bäuerin sanft übers lockige Haar strich, wandte er ihr den Kopf zu. Im Blick seiner tiefblauen Augen war etwas, das Livia Mazzano anrührte, nicht einfach an ihre brachliegenden Mutterinstinkte appellierte, sondern sehr viel tiefer ging; dorthin, wo der Blick eines Sechs- oder Siebenjährigen niemals hätte hinreichen dür-fen .
    Die Frau schauderte. Doch es rührte nicht von einem unangenehmen Gefühl her .
    »Wo kommst du her?« fragte sie den Jungen. So vorsichtig sie sich in seiner Gegenwart bisher bewegt hatte, so leise sprach sie auch.
    Der Kleine schwieg, ließ nur den Blick unverwandt auf Livia ruhen, als studierte er jede Linie ihres Gesichtes, dem die harte Arbeit auf dem Berghof nichts von seiner herben Schönheit hatte nehmen können. Sie spürte seine Blicke wie das behutsame Tasten kleiner Finger auf ihrer Haut.
    »Er wird irgendwo ausgerissen sein«, meinte Giuseppe von der Tür her. Seine Stimme zerbrach den merkwürdigen Zauber, den irgend etwas um Livia und den Jungen gesponnen hatte. Und sie war fast dankbar dafür - nun, da es vorbei war. Sie blinzelte zwei-, dreimal hastig, als müßte sie ihren Blick vollends klären, um der Wirklichkeit ansichtig zu werden.
    »Möchtest du es uns nicht sagen?« wandte sie sich dann wieder an den Knaben, vermied es aber - fast unbewußt - ihn dabei direkt anzusehen.
    Schweigen.
    »Vielleicht kann er es nicht«, überlegte Giuseppe.
    »Du meinst -?«
    Ihr Mann nickte, noch immer am niedrigen Türstock lehnend.
    »Möglicherweise ist er ja stumm.«
    Livia streifte den Knaben mit einem nun wieder etwas längeren Blick.
    »Vielleicht«, meinte sie, »hat er irgend etwas Schlimmes erlebt, das ihm - nun, die Sprache verschlagen hat.«
    Giuseppe zuckte bedauernd die Schultern.
    »Nun, wir werden es nicht erfahren. Nicht von ihm jedenfalls.«
    Livia sah zu ihrem Mann hin, hastig und mit einem fast erschrockenen Flackern in ihren dunklen Augen. Etwas in Giuseppes Stim-me alarmierte sie; etwas, das er nicht ausgesprochen hatte - noch nicht.
    »Was hast du vor?« fragte sie besorgt.
    »Na, was wohl?« antwortete Giuseppe. »Ich werde unseren kleinen Gast ins Dorf hinunter bringen. Wer weiß, vielleicht sucht man ja nach ihm. Oder es kennt ihn dort zumindest jemand.«
    Livia Mazzanos Arm

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