Der Hueter und das Kind
eingedrungen war. Dann nämlich hätte sich sein Vieh anders aufgeführt, aufgeregter, panischer .
Der Bauer öffnete den zweiten Torflügel. Licht flutete den Stall, doch es blieben immer noch genug Winkel im Dunkeln, in denen sich jemand verstecken konnte.
Giuseppe trat vor, packte die Forke fester.
»Wer ist da?« rief er, nicht annähernd so laut, wie er es beabsichtigt hatte. Etwas schlug ihm entgegen. Er konnte es nicht einmal für sich selbst beschreiben, es schien ihm nur auf eigenartige Weise -vertraut . Und er dachte, scheinbar zusammenhangslos, an Monte Cargano ...
Da!
Rührte sich dort hinten nicht etwas im Schatten einer der lattenverschlagenen Boxen? Als würde ein Stück der dort nistenden Dunkelheit lebendig .
Giuseppe ging noch zwei, dann drei Schritte näher, die Mistgabel vorgereckt.
Und dann sanken die rostigen Zinken dem Boden entgegen, fiel alle Anspannung von ihm ab wie eine alte Haut.
Er sah, was sich dort bewegt hatte. Und er wußte, daß weder ihm noch seinem Vieh irgendein Leid drohte.
Nicht von einem kleinen Jungen, der sechs, allenfalls sieben Jahre alt sein mochte.
Und schon gar nicht, wenn dieser Knabe das Gesicht eines Engels hatte .
*
Indien, Neu Delhi
Der Tritt, den Timot dem stinkenden Leichnam versetzte, neben dem er die Tage im Tod zu verbringen gezwungen war, sollte wütend sein. Doch seine Kraft reichte kaum, den fleckigen Körper auch nur nennenswert zu berühren. Allenfalls schien es dem Vampir, als veränderten sich die allmählich verwesenden Züge in Sahya Pat-naiks bärtigem Gesicht zu einem hämischen Grinsen. Doch auch das war wohl nicht mehr als eine weitere Gemeinheit, die der »Erwecker« Timots Sinnen vorgaukelte, die nunmehr auch die seinen waren .
Mit unendlich müden Schritten schlurfte der Vampir aus dem Raum, in den Patnaik ihn allmorgendlich zum Sterben zu gehen zwang. Wie er ihn auch dazu veranlaßte, sein elendes Dasein in dem Haus an der Grand Trunk Road zu fristen, wo der »Erwecker« einst selbst gewirkt hatte.
Tanor indes mußte seinen Blutsohn Timot für tot halten. Das Oberhaupt hatte sich von seinen Kindern ferngehalten, als das Ende unausweichlich geworden war. Vielleicht aus Angst, letztlich doch mit ihnen sterben zu müssen; vielleicht aber auch, weil er nicht mitansehen konnte oder wollte, wie mit ihnen auch ein Teil seiner Selbst verging .
Timot wußte selbst nicht recht, weshalb er sein Schicksal Tanor gegenüber verheimlichte. Obwohl die Einsamkeit ihm arg zu schaffen machte.
Wir sind nicht einsam, wisperte es in seinen Gedanken, sieh dich nur um ...
Der Vampir schloß demonstrativ die Augen. Trotzdem »sah« er, was Sahya Patnaik meinte. Die Bilder dessen, wozu ihn das geraubte Bewußtsein des »Erweckers« wieder und wieder trieb, hatten sich so tief in ihm eingebrannt, daß sie allgegenwärtig waren. Dazu hätte es nicht einmal der wie trunken im Haus umhertaumelnden Gestalten bedurft, an denen Patnaik seine Kunst hatte wirken lassen - durch Timots Hände .
Nicht in jeder, aber doch in vielen Nächten brachten gedungene Helfer das schaurige »Material«, aus dem Timot unter der Anleitung des »Erweckers« in stundenlanger Arbeit das schaffen mußte, was Patnaik seit jeher der Gesellschaft lebender Menschen vorgezogen hatte. Das Haus des Nekromagiers hatte schon früher nicht nur nach Tod gerochen . ..
Vor einem der zerbrochenen Fenster blieb Timot stehen. Das gespenstische Treiben der Toten hier drinnen war von draußen mitunter zu beobachten. Deshalb machten die Menschen seit langem schon einen Bogen, wenn ihr Weg sie in die Grand Trunk Road führte.
Doch Timot war nicht auf Nähe angewiesen, um andere zu spü-ren. Das war Teil seines Talents, und er nutzte es jetzt, da er am Fenster stand. Geistige Fühler fuhren hinaus, ignorierten das wilde Pulsieren abertausender Energieströme, die aus dem Lichtermeer, zu dem Delhi geworden war, in die Nacht emporstiegen. Unsichtbar griffen sie über die stinkenden Fluten des Ganges hinweg, bis sie jene Moschee erreichten, die in keinem Fremdenführer verzeichnet war und - zumindest in der Vergangenheit - doch immer wieder das Ziel neugieriger Besucher gewesen war. Weil jene, die unter dem entweihten Ort hausten, es zugelassen, sie mitunter gar hingelockt hatten.
Über dreihundert Jahre hatte Timot selbst dort verbracht. Heute indes schien die Moschee verlassen, selbst vom letzten der DelhiSippe .
Oder?
Timots Kraft genügte längst nicht mehr, mühelos in viele Winkel zugleich
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