Der Hueter und das Kind
...
»Wessen beschuldigst du mich?« knurrte Landru, seinem Mühen um Beherrschung zum Trotz ungehalten. »Alles versucht zu haben, um unsere Rasse vor der völligen Degeneration zu bewahren?« fuhr er im selben Ton fort. »Alles getan zu haben, um den Untergang abzuwenden? Wenn du das tust, dann sind dies wahrlich >Vergehen<, für die ich mich gerne anprangern lasse! Denn damit habe ich mehr für die Alte Rasse getan als alle anderen! Dich eingeschlossen, Tanor!«
»Dennoch hast du unserer glorreichen Rasse nichts anderes gebracht als den Tod«, erwiderte Tanor. Das Lächeln seines schmallip-pigen Mundes jedoch war ein Zeichen dafür, daß er Landru nicht wirklich des Mordes an ihrem Volk anklagen wollte.
»Wie hätte ich es verhindern können?« fragte Landru, durch die versöhnliche Geste des anderen selbst ein wenig besänftigt. »Nichts wies darauf hin, welche katastrophale Folge der Einsatz des Kelches nach sich ziehen würde.«
Tanor zuckte die hageren Schultern.
»Hättest du nicht vorher Zwiesprache mit dem Gral halten können?« meinte er. »Konntest du das früher nicht, als du ...«
»Schweig!« fuhr Landru ihn an.
Tanors Frage war dreist, weil sie rein rhetorischer Natur war. Sie bedurfte keiner Antwort, weil er sie längst kannte. So wie er alles wußte, was das Verhältnis zwischen Hüter und Kelch einst ausgemacht hatte. Jedes Detail darüber hatte er damals in Landru gelesen, und Tanor würde nicht das geringste Quentchen dieses wertvollen Wissensschatzes je wieder vergessen.
So wie Landru bis in alle Ewigkeit die Schmach nicht vergessen würde, die Tanor und seine Sippe ihm damit angetan hatten ...
»Das Gift, mit dem der Kelch verseucht wurde, zeigte seine Auswirkung wohl auch bei mir«, gestand der Hüter schließlich ein. »Es zerstörte alle Gedanken an Vorsicht, ersetzte sie durch blanke Euphorie. Erst als es zu spät war, ließ der verfluchte Keim es zu, daß ich mich der Möglichkeit zur Zwiesprache entsann. Doch der Kelch schwieg, schien tot zu sein und leer, beraubt all dessen, was ihn einst zum Unheiligtum unserer Rasse erhoben hatte .«
Landrus Gedanken irrten ab. Ja, beraubt erschien ihm der Kelch. Etwas hatte befreit, was in ihm gewesen war und ihn mit unbegreifbarem Leben erfüllt hatte - die Seelen all jener, die einst aus dem Gral getrunken hatten, waren nicht länger darin gefangen. Etwas (Jemand! schrie es in Landru) schien sie, deren Zahl in die Abertausende ging, von ihrem ewigkeitslangen Leid erlöst zu haben .
Und doch schien der Kelch nicht völlig leer zu sein, wie Landru bei seinen Versuchen, geistigen Kontakt mit dem magischen Artefakt aufzunehmen, festgestellt hatte. Aber es war ihm nie gelungen, das wahre Wesen dessen, was sich darin befand und in Schwärze verbarg, zu ergründen. Es schien ihm nur - vertraut. Als wäre er ihm schon einmal begegnet. Vor gar nicht langer Zeit .
»All das beantwortet meine Frage nicht, aus welchem Grund du mich aufsuchst«, drängte sich Tanors Stimme zwischen seine Gedanken. »Es wird kaum der bloße Wunsch nach Gesellschaft sein, obwohl die Welt dort draußen einsam geworden sein muß für einen, dessen Leben ein tausendjähriges Reisen von Sippe zu Sippe war.«
Irgendwann, mein lieber Tanor, dachte Landru, voll von ingrimmiger Vorfreude, werde ich dir jedes einzelne deiner anmaßenden Worte in deinen verdammten Hals zurückstopfen. Und dann werde ich dir einen Knoten in den Kragen binden, damit du an deiner Unverschämtheit erstickst. Irgendwann . wenn ich dich nicht mehr brauche .
Es fiel dem Hüter nicht schwer, ein dunkles Lächeln zur Schau zu tragen, das Tanor gründlich mißverstehen mußte.
»Nein, ich brauche deine Hilfe«, erklärte Landru knapp und trat näher.
Tanors strichdünne Brauen wanderten eine Winzigkeit seine Stirn empor.
»Ach?« machte er. »Wobei könnte ich dir helfen, was du nicht selbst längst geschafft hast?«
Landru verstand die Geste des anderen, mit der er die leeren Räume der Moschee bezeichnete.
»Nun laß es gut sein und Vergangenes ruhen«, verlangte der Hüter. »Hör mir zu ...«
Landru begann zu erzählen von all den Dingen, denen er in den vergangenen Wochen nachgespürt hatte; davon, wie er den Niedergang der Sippen in aller Welt beobachtet hatte; wie er festgestellt hatte, daß er selbst einem jeden Vampir den Tod brachte, dem er nahekam; von seiner Hoffnung, die er auf den Retorten-Vampir gesetzt hatte, und davon, wie sich diese Hoffnung zerschlagen hatte; und schließlich
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