Der Hueter und das Kind
wußte er nicht, wie Gabriel dorthin gelangt war. Auf ihre diesbezüglichen Fragen hatte der Knabe nie geantwortet. Trotzdem sprach Giuseppe das Thema ein weiteres Mal an, als er die Tore des Stalls aufzog.
»Möchtest du mir nicht endlich sagen, weshalb du dich da drinnen versteckt hast?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil es nicht wichtig ist«, erklärte Gabriel.
»Du hast recht«, erwiderte Giuseppe, »es ist nicht wichtig.« Überzeugung klang in seinen Worten, doch es war nicht seine eigene. Etwas hatte ihn überzeugt, wie all die Male zuvor. Und wie all die Male zuvor gab der Bauersmann sich damit zufrieden, ohne sich weiter darüber zu wundern.
Er trat in den Stall und wandte sich nach links, wo die Futtervorräte lagerten.
»Komm, laß uns anfangen«, sagte er über die Schulter.
Der Junge folgte ihm.
Und schlagartig begann es wieder.
Unruhe breitete sich aus wie eine unsichtbare Wolke. In den Boxen begannen die Tiere nervös zu stampfen, keimende Furcht verschaffte sich immer lauter und lauter werdend Ausdruck.
»Sie mögen mich nicht«, sagte Gabriel. Es klang nicht traurig, sondern - triumphierend .
Giuseppe überhörte es.
»Unsinn«, entgegnete er. »Sie kennen dich nicht, das ist alles. Sie werden sich an dich gewöhnen. Du darfst nur keine Angst haben.«
»Ich habe keine Angst«, sagte der Junge. Auch die merkwürdige Betonung in seinen Worten entging Giuseppe.
Die Tiere wurden unruhiger. Kräftige Tritte und die Bewegung schwerer Körper erschütterten die Bretterverschläge entlang des Mittelganges.
»Ruhig«, rief Giuseppe Mazzano den Tieren zu. »Euch geschieht doch nichts, ganz ruhig.«
Seine Worte gingen unter im Schnauben, Blöken und Grunzen des Viehs.
Er füllte einen Eimer mit Futter, nahm den Jungen bei der Hand und ging mit ihm weiter in den Stall hinein.
»Sie beruhigen sich schon wieder«, meinte er, an Gabriel gewandt.
Holz knirschte, direkt neben ihnen.
Dann splitterte es mit einem Geräusch, das wie ein Schuß durch den Stall peitschte!
Und zwischen den Brettern brach ein gehörnter Koloß hervor, die riesigen dunklen Augen weit aufgerissen, und stampfte brüllend auf den Mann und den Jungen zu!
Giuseppe schrie erschrocken auf.
Gabriel starrte nur.
Das Rind kam zwei Schritte weit.
Sein Leib blähte sich binnen einer einzigen Sekunde. Aus panischem Brüllen wurden das schmerzerfüllte einer todgeweihten Kreatur.
Dann riß das Fell des Tieres unter dem Druck quellender Eingeweide, die in einer fast lautlosen Explosion auseinanderstoben. Blut und zerfetztes Gedärm regnete nieder, traf die anderen Tiere, die sich wie irrsinnig gebärdeten.
Ein warmer Schwall durchnäßte Giuseppe vom Hals bis zu den Knien.
Gabriels Gesicht wurde zu einer rotglänzenden Maske, in der die Augen wie unter innerer Weißglut glommen. Doch seine Züge blieben reglos, als er zu dem Mann aufsah.
»Das hätte es nicht tun dürfen«, sagte der Junge nur.
Giuseppe schüttelte den Kopf und nickte zugleich.
»Du hast recht. Das hätte es nicht tun dürfen«, bestätigte er fast teilnahmslos.
Das Entsetzen war nicht mehr als ein eisiger Punkt tief in seinem Inneren. Etwas verhinderte, daß es sich Bahn brach. Doch er wünschte sich, es hätte ihn übermannt. Denn es spüren zu müssen, ohne es indes empfinden zu können, war ungleich schlimmer.
Aber der Gedanke verging, folgte so vielen anderen nach, die in den vergangenen Tagen wie von unsichtbarer Hand aus seinem Bewußtsein gelöscht worden waren.
»Geh ins Haus«, sagte er zu Gabriel. »Wasch dir das Gesicht und sieh nach Livia, hm?«
»Ja, das tue ich gern«, erwiderte der Junge und ging.
Vorfreude glitzerte in seinen blutumschmierten Augen, als er über den Hof lief.
Vorfreude und Gier.
*
Indien
Sahya Patnaik bot einen absonderlichen Anblick.
Wie er es schon immer getan hatte .
... als er noch lebte! durchfuhr es Tanor. Doch das Erstaunen, das an der Grenze zum Erschrecken zögerlich verebbt war, ließ ihn stumm und starr stehen.
Der »Erwecker« gemahnte eher an ein Tier denn an einen Menschen. Sein Haar hing als zottige Mähne weit auf den Boden hinab. Grauer Bartfilz wuchs um seinen seltsam unförmigen Mund herum und bis auf die eingefallene Brust hinab. Um die Hüften trug er ein mit Symbolen bemaltes Tuch, über dessen Rand der Bauch wie eine Kugel hing, der in völligem Gegensatz zu seiner sonst dürren Statur stand. Amulette klimperten noch durch die Bewegung des Schrittes, der ihn über die Torschwelle gebracht
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