Der Hund im Kuehlschrank
nicht wahrnehmen.
Jeder Mensch sucht und findet andere Worte, um sich auszudrücken. Aber letztlich wurzeln wir im selben Urgrund. Es sind elementare Gefühle wie Liebe, Neid, Wut, Sehnsucht, Freude, Rebellion, Trauer, Angst, Lust, Verzweiflung und dergleichen mehr, um die es geht. Wieder und wieder wird davon erzählt – in unendlichen Variationen. Dabei macht es einen Unterschied, ob wir über Gefühle sprechen oder ob wir Gefühlsbilder erschaffen. Eine Diskussion oder ein Vortrag über »Die Schattenseiten des Neides« beispielsweise hat eine ganz andere Wirkung als eine Geschichte, die einem den Neid in personifizierter Form vor
Augen führt. Der Dichter Ovid hat in seinen Metamorphosen ein sehr eindrückliches Bild davon geschaffen. Er erzählt in der Sage von »Merkur und Herse« von einer Neidgöttin, die vom Götterboten Merkur zur eifersüchtigen Königstochter Herse geschickt wird, um diese zu strafen. Dabei schildert Ovid drastisch das Leben der Göttin in einer dunklen Hütte in einem düsteren, schattigen Tal. Das Haus ist mit Jauche überschüttet, und die Göttin sitzt an einem Tisch und kaut Schlangenfleisch. Als sie von Merkur um Hilfe gebeten wird, macht sie sich mit ihrem dornigen Wanderstab auf den Weg, um ihr zerstörerisches Gift zu verteilen. Ein düsteres Stimmungsbild, das einen schaudern lässt. Doch gleichzeitig berührt diese Geschichte und macht den Neid als Urgefühl spürbar.
Märchen und Mythen
Märchen und Mythen sind Geschichten, die so nie passiert sind und doch ständig geschehen. In bildhafter Sprache vermitteln sie »Wahrheiten«, die uns alle betreffen. Wenn wir diese Geschichten hören oder selbst erzählen, spüren wir die Kraft, die in ihnen liegt, und oft auch Verbindungsfäden zu unserem eigenen Leben. »Gute Geschichten ähneln Samenkörnern, die jahrtausendelang luftdicht verschlossen in den Kammern der Pyramiden gelegen und ihre Keimkraft bis auf den heutigen Tag bewahrt haben«, schreibt Walter Benjamin. Im Gegensatz zur Information, die nur wirkt, solange sie neu und aktuell ist, bewahrt eine Erzählung ihre Kraft und ist auch noch nach langer Zeit der Entfaltung fähig.
Einer der ältesten überlieferten Erzählstoffe ist die Odyssee des Dichters Homer. Fast 3000 Jahre ist die Geschichte alt. Unzählige
Themen und Motive stecken darin, die uns auch heute noch bewegen. »Abenteuer erlebt nur der, der sie zu erzählen weiß«, hat Henry James einmal gesagt. Odysseus ist nicht nur ein tapferer und listiger Abenteurer, sondern auch ein großer Erzähler. Auf der Insel der Phäaken, die er am Ende seiner Irrfahrt als Schiffbrüchiger erreicht, berichtet er am Königshof von seinen Erfahrungen. Und wir können uns vorstellen, dass er seine Geschichten nach der Heimkehr noch viele Male erzählt hat. Zuallererst sicherlich seiner Frau Penelope, die immerhin zwanzig Jahre auf ihn gewartet hat . . .
Stellen Sie sich vor, Ihr Mann bricht zu einer Geschäftsreise auf und kehrt erst nach zwanzig Jahren wieder zurück. Natürlich wollen Sie wissen, wo er war, was ihn aufgehalten hat und was in all den Jahren geschehen ist. Und Ihr Mann erzählt – von entbehrungsreichen Tagen und Nächten, von gefährlichen Ungeheuern, von erbitterten Kämpfen und großen Gefahren, von zauberhaften Frauen, schwierigen Entscheidungen und lebensbedrohlichen Fehlern, von überraschender Hilfe in der Not und göttlicher Führung. Die Trennung zweier Menschen, zweier Liebender im Besonderen, und ihr Wiedersehen nach langer Zeit, das gegenseitige Erzählen der jeweiligen Geschichten, der Erfahrungsaustausch im persönlichen Gespräch – all das ist und bleibt aktuell.
Die großen Götter- und Heldensagen haben viel mit unserem Alltagsleben zu tun. Das, was die Götter auf dem Olymp bewegt, ist dem ähnlich, was die Menschen beschäftigt. Und das, was all die Söhne und Töchter in den Märchen erleben, die in die Welt hinausziehen, die Wege, die sie gehen, die Aufgaben,
die sie zu lösen haben, die Versuchungen, denen sie widerstehen müssen, all das spiegelt viel von dem, was uns im Leben begegnet und uns immer wieder aufs Neue herausfordert. Denken Sie an die Grimmschen Märchen, die ja ursprünglich nicht für Kinder, sondern für Erwachsene erzählt und aufgeschrieben wurden. Die großen Lebensthemen sind darin verwoben. Deswegen lohnt es sich, die alten Geschichten zu erinnern, sie lebendig zu halten und erzählend in den Alltag zu integrieren. Diese Stoffe packen uns an
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