Der Hund im Kuehlschrank
überraschende Möglichkeit, dass die Nachbarin das Kind mit zur Schule nehmen kann. Ein anderer sieht die vielen bunten Früchte, zwischen denen er sich beim Einkauf auf dem Markt mittags nur schwer entscheiden konnte. Wieder ein anderer hat das innere Bild seines Freundes vor Augen, der sich ein neues Hemd gekauft hat und es stundenlang stolz vorführte. Oder jemand hört beim Betrachten der Leinwand noch einmal das lange Gespräch mit der Tante am Telefon, spürt den Ärger mit der Bank wegen einer nicht ausgeführten Überweisung und leidet bei der Erinnerung an die Migräneattacke am Nachmittag. Wieder ein anderer blickt möglicherweise auf seine To-do-Liste, die er morgens geschrieben, dann aber nur zur Hälfte abgearbeitet hat, und spürt ein Gefühl der Müdigkeit, das wie ein grauer Schleier über seinem Tag liegt.
Jeder hat sein Bild vor Augen und erinnert sich an die Geschehnisse des Tages. Am Ende fordere ich alle auf, dieses Bild – ganz gleich, was sich darauf befindet – bewusst von der »inneren Staffelei« zu nehmen, zusammenzurollen und an einer selbst gewählten, imaginären Stelle zu verstauen. Wer will, kann sein Bild auch in den Papierkorb werfen. Es gibt Bilder, die möchte man behalten, andere kann man getrost entsorgen. Anschließend zieht jede und jeder in Gedanken innerlich eine neue weiße Leinwand auf, um diese mit frischen Eindrücken zu bemalen.
Was ist auf Ihrer inneren Leinwand zu sehen? Schließen Sie für ein paar Minuten die Augen und tauchen Sie ein in die Bilder des Tages. Entscheiden Sie dann bewusst, was Sie davon bewahren und was Sie loswerden möchten. Und ziehen Sie am Ende eine neue Leinwand auf.
Verstummen
Wir brauchen diese imaginäre unbeschriebene Leinwand, um uns selbst und anderen aufmerksam zuzuhören. Es muss Ruhe einkehren in unseren Köpfen und Herzen, wir brauchen leeren Raum, um neue Eindrücke aufzunehmen. Auch geistige Nahrung wie z. B. Gespräche müssen verdaut werden, und dafür müssen immer wieder Worte, Sätze, innere Bilder und Erinnerungen »ausgeschieden« werden. Sprechen wurzelt in der Stille. Geschichten werden im Schweigen geboren.
Wer gern und viel erzählt, weiß in der Regel auch um das Gegenteil des Sprachflusses. Keiner hat die Garantie, dass seine Worte unablässig fließen. Manchmal verschlägt es einem die Sprache. Der Wortschwall versiegt.
In seinem Roman Harun und das Meer der Geschichten erzählt der Schriftsteller Salman Rushdie vom Geschichtenerzähler Raschid Khalifa, der einen nie versiegenden Strom langer, kurzer und verschlungener Erzählungen von sich gibt. Doch eines Tages verstummt Khalifa. Kein Wort kommt mehr über seine Lippen. Wie sich bald herausstellt, ist ihm – aufgrund eines traumatischen Erlebnisses – der »Erzählwasserhahn« abgedreht worden und damit sein Zugang zum Meer der Geschichten verloren gegangen. Sein Sohn Harun macht sich schließlich auf den Weg,
um seinem Vater die Sprache wiederzubringen. Ein spannender, phantasievoller Roman über ein bewegendes Thema. Interessanterweise findet sich dasselbe Thema bei vielen Erzählern. Auch der Autor Rafik Schami beschäftigt sich in seiner Geschichte Erzähler der Nacht mit dem unerwarteten Verstummen. Bei ihm ist es der Kutscher Salim, der eines Tages ganz überraschend von seiner »Erzählfee« verlassen wird. Zum Abschied schenkt sie ihm noch 21 letzte Worte, die Salim allerdings so geschickt einzusetzen versteht, dass es für ihn am Ende doch Rettung aus der Sprachlosigkeit gibt.
Was würden Sie sagen, wenn Sie plötzlich erführen, dass Sie nur noch 21 Wörter zur Verfügung hätten? Ein solch begrenzter Raum an Ausdrucksmöglichkeit kann uns den Wert jedes einzelnen Wortes bewusst machen.
21 Wörter, die Ihnen am Herzen liegen
Stellen Sie sich vor, Ihnen stünden – wie Salim, dem Protagonisten von Rafik Schamis Geschichte »Erzähler der Nacht« – nur noch 21 letzte Wörter zum Erzählen zur Verfügung. Welche würden Sie wählen?
Reden und Schweigen. Erzählen und Verstummen. Das eine ist im anderen enthalten. Besonders eindrücklich habe ich dies einmal bei einer Lesung mit Texten von Robert Gernhardt erlebt. Der Kabarettist Lutz Görner sprach Gedichte und Geschichten aus der Reihe »Spaßmacher und Ernstmacher«. An einer Stelle im Programm verkündete der Rezitator auf einmal: »Sehr verehrtes Publikum, ich bleib jetzt drei Minuten stumm.« Dann schloss er den Mund, blickte schweigend auf seine Armbanduhr und verharrte
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