Der Hund im Kuehlschrank
den Wurzeln und kommen dennoch im Kleid der Geschichte luftig, leicht und spielerisch daher. Kraftvolle Geschichten wie die Odyssee bieten uns Modelle für die Fragen unseres Alltagslebens: positive Modelle, wie man etwas lösen oder bewältigen kann, negative Modelle, wie etwas nicht funktioniert oder zum Scheitern verurteilt ist, oder auch Suchmodelle, in denen wir unsere eigenen Herzensfragen entdecken können. Die Märchen-, Mythen- und Sagenwelt steht in unmittelbarer Wechselwirkung mit unserem Alltag.
Homöopathische Kügelchen
Geschichten können Medizin sein. Schamanen und Weise wissen seit Langem um ihre Heilkraft. Die Wirkung ist ähnlich wie bei einem homöopathischen Kügelchen. Nach dem Prinzip »Gleiches mit Gleichem heilen« gerät eine bestimmte Geschichte mit einem bestimmten Menschen in Resonanz. Dadurch entstehen – wie beim Stein, der ins Wasser geworfen wird – Bewegungsmuster im Inneren. Erst einmal unbemerkt arbeitet das Gehörte weiter, erinnert die Person vielleicht Tage später an ein Erlebnis, rührt sie auf einmal zu Tränen oder lässt sie unvermittelt im Supermarkt schmunzeln. Geschichten sind nachhaltig. Ihre Wirkung ist zeitversetzt zu spüren. Auf einmal fällt einem eine
Szene aus einer Geschichte ein und öffnet in diesem Augenblick eine innere Tür. Auf einmal zeigt sich eine Verbindung von der Prinzessin im Märchen, die auf ihre Erlösung wartet, zu unserem eigenen Leben. Auf einmal verstehen wir, warum die Eltern von Hänsel und Gretel so hart handelten, als sie ihre Kinder in den Wald schickten, oder warum Schneewittchen immer wieder auf die Verlockungen der bösen Stiefmutter hereinfiel. Wir fühlen, wie es Odysseus ergangen sein muss, als er sich nicht entscheiden konnte, welches der beiden Ungeheuer – Skylla oder Charybdis – das kleinere Übel von beiden war. Und möglicherweise können wir nachvollziehen, dass er schließlich weder das eine noch das andere riskieren wollte, sondern versuchte, den Weg der Mitte zu gehen: ein bisschen Gefahr von beiden Seiten, in der trügerischen Hoffnung, damit letztlich beiden Ungeheuern zu entkommen. Und wer kennt nicht die Zauberkraft mancher Frauen, die wie die schöne Circe Odysseus und seine Männer im wahrsten Sinne des Wortes becircen. In all diesen Motiven steckt das Leben selbst in all seinen Variationen. Jeder hört das, was er braucht. Doch nicht nur hinter den Worten ist eine Welt verborgen, sondern auch dazwischen. Eine Pause spricht oft Bände.
Warum Pausen wichtig sind
»We began before words and we will end beyond them.« Unser Anfang liegt vor den Worten, unser Ende jenseits von ihnen.
(Ben Okri)
Warum Pausen wichtig sind
Als professionelle Erzählerin lebe ich vom Wortwechsel, vom Erzählen und Zuhören, vom Kontakt mit Menschen. Geschichten sind meine Leidenschaft und mein Beruf. Und doch – oder gerade deswegen – erlebe ich Momente, in denen mir das Reden unerträglich wird. Ich wünsche mir dann, meine Ohren zu schließen, so wie man die Augen schließen kann, und in die Stille zu gehen. Auf einmal werde ich unruhig, kann Gespräche schwer aushalten, möchte verstummen und eine Weile nur noch non-verbal kommunizieren. Dann weiß ich: Ich brauche dringend eine Pause! [Ref 13]
Die »innere Leinwand« ist übervoll mit Eindrücken. Es ist höchste Zeit, in meiner Vorstellung ein neues, weißes, unbeschriebenes Blatt Papier aufzuziehen und die vollgeschriebenen und bunt bemalten Seiten abzunehmen, zusammenzurollen und in die Ecke zu stellen. »Sometimes I think our days are poisened with too many words«, schreibt der spirituelle Meister Ben Okri. Zu viele Worte können uns überfluten und bis zur Erschöpfung ermüden. Dann haben wir Stille nötig, um die Bewegungen der Seele zur Ruhe zu bringen und die Oberfläche des Sees wieder glatt werden zu lassen.
Die innere Leinwand
Meine Erzählseminare beginne ich oft mit einer Phantasiereise, bei der innerlich Raum entstehen kann für Neues. Wenn die Menschen in meinen Kurs kommen, liegt bereits ein Tag voller Eindrücke hinter ihnen. Die Köpfe sind angefüllt mit Erlebnissen,
Gesprächen und Bildern. Es tut gut, bevor man sich neuen Geschichten zuwendet, erst einmal die Augen zu schließen, nach innen zu spüren und das innere Tagesbild genau zu betrachten. Bei dem einen Menschen ist da vielleicht die Tochter zu sehen, die morgens zu spät aufstand und deswegen den Schulbus verpasste, der ärgerliche Wortwechsel mit ihr und die
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