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Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand

Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand

Titel: Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Jonasson
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einem Arbeitslager konnte man ganz sicher nicht faulenzen, da würden die Wachen einem garantiert gleich ein paar Kugeln hinterherschießen.
    Herbert begrüßte den Gedanken einerseits, andererseits schauderte er auch. Ein paar Kugeln – tat so was nicht schrecklich weh?
    * * * *
    Allan Karlsson stellte keine großen Ansprüche ans Leben. Er wollte ein Bett, ausreichend Essen, eine Beschäftigung und in gewissen Abständen ein Gläschen Schnaps. Solange das gesichert war, konnte er fast alles ertragen. Insofern bot das Lager in Wladiwostok alles, was er sich wünschte, bis auf den Schnaps.
    Der Hafen von Wladiwostok hatte damals einen offenen und einen geschlossenen Teil. Der geschlossene war von einem zwei Meter hohen Zaun umgeben, in dem das Zwangsarbeitslager des Gulag lag: vier Reihen mit je vierzig braunen Baracken. Der Zaun ging bis hinunter an den Kai. Die Schiffe, die von den Gefangenen beladen und entladen werden sollten, legten innerhalb der Umzäunung an, die anderen außerhalb. Die Lagerinsassen hatten mit fast jeder Art von Ladung zu tun, nur die ganz kleinen Fischerboote mit Besatzung mussten allein zurechtkommen, und der eine oder andere Öltanker, der einfach zu groß war.
    Bis auf wenige Ausnahmen sahen die Tage im Lager in Wladiwostok immer gleich aus. Wecken um sechs Uhr, Frühstück um Viertel nach sechs. Die Arbeitsschicht dauerte zwölf Stunden, von halb sieben bis halb sieben, mit einer halbstündigen Mittagspause um zwölf. Im Anschluss an die Arbeit gab es Abendessen, danach wurden die Insassen bis zum nächsten Morgen eingesperrt.
    Die Verpflegung war ganz anständig: Es gab zwar meistens Fisch, aber selten in Form von Suppe. Die Wächter waren nicht direkt freundlich, aber sie schossen auch nicht unnötig auf die Gefangenen. Sogar Herbert Einstein war noch am Leben, obgleich das seinen Wünschen zuwiderlief. Er schlurfte zwar matter daher als jeder andere Gefangene, aber da er sich immer in der Nähe des hart arbeitenden Allan aufhielt, fiel er nicht weiter auf.
    Allan hatte nichts dagegen, für zwei zu arbeiten. Allerdings führte er bald eine Regel ein: Herbert durfte ihm nicht die ganze Zeit die Ohren volljammern, wie elend sein Leben doch sei. Das habe Allan inzwischen verstanden, und er vergesse es ganz sicher nicht vom einen Tag auf den nächsten. Diese Klagen immer und immer wieder zu wiederholen, sei also völlig sinnlos.
    Herbert gehorchte, und damit war alles in Ordnung.
    Wäre da nur nicht die Sache mit dem Schnaps gewesen. Allan hielt es genau fünf Jahre und drei Wochen aus. Dann verkündete er: »Jetzt will ich endlich mal wieder einen ordentlichen Schnaps. Und hier kriegt man nirgendwo einen Schnaps. Da muss ich mich wohl mal wieder verändern.«

17. KAPITEL
Dienstag, 10. Mai 2005
    Die Frühjahrssonne strahlte schon den neunten Tag in Folge vom Himmel, und obwohl der Morgen noch kühl war, deckte Bosse den Frühstückstisch auf der Veranda.
    Benny und die Schöne Frau führten Sonja aus dem Bus und auf die Wiese hinterm Haus. Allan und der Piranha Gerdin saßen zusammen in der Hollywoodschaukel und schaukelten ganz vorsichtig. Der eine, weil er hundert Jahre alt war, der andere, weil er sich so fühlte. Sein Kopf dröhnte, die gebrochenen Rippen erschwerten ihm das Atmen, sein rechter Arm wollte nicht so, wie er wollte, und das Schlimmste war sicher die Fleischwunde am Oberschenkel. Benny schaute bei ihnen vorbei und schlug vor, den Verband demnächst zu erneuern, aber vielleicht sollte er ihm zuerst ein paar anständige Schmerztabletten verabreichen. Wenn nötig, konnten sie am Abend wieder mit Morphin nachlegen.
    Dann ging Benny zurück zu Sonja und überließ die beiden wieder sich selbst. Allan fand, dass es langsam Zeit für ein ernsthaftes Gespräch unter Männern wurde. Er begann damit, sein Bedauern darüber auszudrücken, dass … Bolzen hieß er, nicht wahr? … dass Bolzen im Wald von Sörmland draufgegangen war und dass … Humpen? … wenig später unter Sonjas Hinterteil geraten war. Doch sowohl Bolzen als auch Humpen waren gelinde gesagt recht bedrohlich aufgetreten, was man der Gruppe schon als mildernden Umstand anrechen musste – ob der Herr Piranha das nicht auch finde?
    Der Piranha erwiderte, es sei zwar betrüblich, zu hören, dass die Jungs tot waren, aber im Grunde überrasche es ihn nicht mal, dass sie von einem hundertjährigen Greis, wenn auch mit etwas Hilfe von außen, überwältigt worden waren. Beide seien nämlich unheimlich beschränkt

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