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Der Hypnotiseur - Kepler, L: Hypnotiseur - Hypnotisören

Titel: Der Hypnotiseur - Kepler, L: Hypnotiseur - Hypnotisören Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lars Kepler
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erreichen. Er stützt sich auf einem Grabstein ab, es sind mehr als 300 Meter, das heißt sechs Mal so weit, wie die Bahnen bei ihren Schießübungen lang sind. Das Korn wackelt vor Joona. Es ist schwer zu erkennen, er kneift die Augen zusammen und schärft den Blick. Die grauweiße Gestalt wird schmaler und dunkler. Der Ast eines Baums bewegt sich immer wieder durch die Schusslinie. Der bärtige Mann hat sich erneut zu Josef umgedreht und weicht einen Schritt zurück. Joona versucht, das Ziel im Auge zu behalten, und drückt ab. Der Schuss löst sich, und der Rückschlag fährt durch Ellbogen und Schulter. Pulverspritzer brennen auf seiner ausgekühlten Hand. Die Kugel verschwindet bloß spurlos zwischen den Bäumen. Das Echo des Knalls verhallt. Joona zielt erneut und sieht, dass Josef den bärtigen Mann mit dem Skalpell in den Bauch sticht. Joona schießt, und die Kugel flattert durch Josefs Kleider, der daraufhin taumelt, das Messer fallen lässt, seinen Rücken abtastet, zum Auto geht und sich hineinsetzt. Joona läuft los, um zur Straße zu gelangen, aber Josef hat das Auto schon gestartet, überfährt rücksichtslos die Beine des Mannes und gibt Vollgas. Als Joona erkennt, dass er es nicht mehr rechtzeitig bis zur Straße schaffen wird, bleibt er stehen, zielt mit der Pistole auf den Vorderreifen, schießt und trifft. Das Auto gerät ein wenig ins Trudeln, fährt aber dennoch weiter, wird schneller und verschwindet in Richtung Autobahn. Joona steckt die Pistole ein, greift nach dem Handy, schildert der Einsatzzentrale die Lage, bittet mit Omar sprechen zu dürfen und wiederholt, dass er einen Hubschrauber braucht.
    Der bärtige Mann lebt noch, aber dunkles Blut sickert zwischen seinen Fingern aus der Bauchwunde, und beide Beine scheinen gebrochen zu sein.
    »Das war doch nur ein Junge«, wiederholt er immer wieder geschockt. »Das war doch nur ein Junge.«
    »Der Krankenwagen kommt gleich«, sagt Joona und hört endlich einen Hubschrauber über dem Friedhof, das Knattern der Rotorblätter.
     

     
    Es ist schon sehr spät, als Joona in seinem Büro den Hörer abhebt, Disas Nummer wählt und wartet.
    »Lass mich in Ruhe«, meldet sie sich schleppend.
    »Hast du geschlafen?«, fragt Joona.
    »Natürlich habe ich geschlafen.«
    Es wird einen Moment still.
    »War das Essen gut?«
    »Ja, das war es.«
    »Du verstehst das hoffentlich, ich musste einfach …«
    Er verstummt, hört sie gähnen und sich im Bett aufsetzen.
    »Bist du okay?«, fragt sie.
    Joona betrachtet seine Hände. Obwohl er sich gründlich gewaschen hat, wird er das Gefühl nicht los, dass seine Finger einen vagen Blutgeruch verströmen. Er war auf die Knie gegangen und hatte die größte Wunde im Bauch des Mannes zugehalten, dessen Auto Josef Ek gestohlen hatte. Der Verletzte war die ganze Zeit bei Bewusstsein gewesen, hatte aufgeräumt und beinahe übereifrig von seinem Sohn gesprochen, der vor Kurzem Abitur gemacht hatte und nun zum ersten Mal alleine in den Norden der Türkei reisen würde, um seine Großeltern zu besuchen. Der Mann hatte Joona angesehen, die Hände auf seinem Bauch betrachtet und verblüfft erklärt, es tue überhaupt nicht weh.
    »Ist das nicht merkwürdig?«, hatte er gefragt und Joona mit dem leuchtenden, klaren Blick eines Kindes angesehen.
    Joona hatte versucht, ganz ruhig zu sprechen und dem Mann zu erklären, dass die Endorphine dafür sorgten, dass er im Moment keine Schmerzen empfand. Sein Körper stand unter Schock, womit er dem Nervensystem eine zusätzliche Belastung ersparte.
    Der Mann verstummte und fragte dann ruhig:
    »Ist es so, wenn man stirbt?«
    Er hatte fast versucht, Joona anzulächeln.
    »Tut es überhaupt nicht weh?«
    Joona wollte ihm antworten, aber im selben Moment traf der Krankenwagen ein, und jemand zog behutsam seine Hände vom Bauch des Mannes und führte ihn ein paar Meter fort, während die Rettungssanitäter den Mann auf eine Trage hoben.
    »Joona?«, fragt Disa erneut. »Wie geht es dir?«
    »Ich bin okay«, sagt er.
    Er hört, dass sie sich bewegt, und es klingt, als würde sie einen Schluck Wasser trinken.
    »Soll ich dir eine neue Chance geben?«, fragt sie dann.
    »Das fände ich sehr schön.«
    »Obwohl ich dir im Grunde scheißegal bin«, sagt sie hart.
    »Du weißt, dass das nicht stimmt«, erwidert er und hört auf einmal selbst, wie unendlich müde seine Stimme klingt.
    »Entschuldige«, sagt Disa. »Ich bin wirklich froh, dass du okay bist.«
    Sie beenden das Gespräch.
    Joona

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