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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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Augen zusammen,
musterte seinen Gast noch einmal vom Kopf bis zu den Füßen, wies ihm
dann schnell einen Stuhl an, setzte sich selbst ihm schräg gegenüber
und wandte sich in ungeduldiger Erwartung zum Fürsten hin. Ganja stand
in einer Ecke des Arbeitszimmers am Schreibtisch und blätterte in
Papieren.
    »Für neue Bekanntschaften habe ich im allgemeinen nur wenig Zeit«,
sagte der General; »aber da Sie gewiß dabei Ihre Absicht haben, so ...«
    »Ich habe es mir vorher gedacht«, unterbrach ihn der Fürst, »daß Sie
in meinem Besuch jedenfalls irgendeine besondere Absicht sehen würden.
Aber bei Gott, außer dem Vergnügen, mit Ihnen bekannt zu werden, habe
ich keinerlei besondere Absicht.«
    »Das Vergnügen ist sicherlich auch für mich ein sehr großes; aber
man kann sich nicht immer dem Vergnügen widmen; es kommen manchmal auch
Geschäfte vor, wie Sie wissen werden ... Außerdem vermag ich bis jetzt
absolut nicht eine gemeinsame Beziehung zwischen uns zu erkennen ...
sozusagen einen triftigen Grund ...«
    »Ein triftiger Grund ist unstreitig nicht vorhanden und gemeinsame
Beziehungen gewiß nur wenige. Denn daß ich Fürst Myschkin bin und Ihre
Gemahlin aus unserem Geschlecht stammt, ist selbstverständlich kein
triftiger Grund. Das sehe ich sehr wohl ein. Aber doch liegt darin der
ganze Anlaß meines Besuches. Ich bin ungefähr vier Jahre nicht in
Rußland gewesen, mehr als vier Jahre; und als ich wegfuhr, war ich
beinahe nicht bei Sinnen! Damals kannte ich nichts in der Welt, und
jetzt noch weniger. Ich bedarf des Verkehrs mit guten Menschen; und
dann habe ich da auch noch eine geschäftliche Angelegenheit, und ich
weiß nicht, wohin ich mich in betreff derselben um Rat wenden soll.
Schon in Berlin dachte ich: ›Das sind beinah Verwandte von mir; mit
denen werde ich den Anfang machen; vielleicht passen wir zueinander,
sie zu mir und ich zu ihnen – wenn sie gute Menschen sind.‹ Und daß Sie
gute Menschen seien, hatte ich gehört.«
    »Ich bin Ihnen sehr verbunden«, versetzte der General verwundert. »Gestatten Sie die Frage: wo sind Sie abgestiegen?«
    »Ich bin noch nirgends abgestiegen.«
    »Also sind Sie geradewegs von der Bahn zu mir gekommen? Und ... mit dem Gepäck?«
    »Als ganzes Gepäck habe ich ein einziges kleines Bündelchen mit
Wäsche bei mir, weiter nichts; das trage ich gewöhnlich in der Hand.
Ich werde am Abend noch Zeit haben, mir ein Zimmer zu nehmen.«
    »Also beabsichtigen Sie auch jetzt noch, in einen Gasthof zu gehen?«
    »Ja, gewiß.«
    »Nach Ihren Worten hatte ich beinah geglaubt, daß Sie einfach bei mir Quartier nehmen wollten.«
    »Das wäre doch nur möglich, wenn Sie mich einlüden. Ich gestehe
indessen, daß ich auch im Fall einer Einladung nicht hierbleiben würde,
nicht aus irgendeinem besonderen Grund, sondern nur, weil das so in
meinem Charakter liegt.«
    »Nun, da trifft es sich ja gut, daß ich Sie nicht eingeladen habe
und nicht einladen werde. Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, Fürst,
um gleich mit einemmal alles klarzulegen: da wir uns soeben darüber
ausgesprochen haben, daß von einer Verwandtschaft zwischen uns nicht
die Rede sein kann, obwohl eine solche für mich selbstverständlich sehr
schmeichelhaft sein würde, so folgt daraus ...«
    »So folgt daraus, daß ich aufstehen und weggehen soll?« sagte der
Fürst, sich erhebend, und lachte dabei trotz der schwierigen Lage, in
der er sich offenbar befand, ganz heiter. »Und bei Gott, General,
obwohl ich absolut keine praktische Kenntnis davon habe, was hier
Brauch ist und wie hier überhaupt die Menschen leben, so hatte ich mir
doch gedacht, daß zwischen uns die Sache genau den Verlauf nehmen
werde, den sie jetzt wirklich genommen hat. Nun, vielleicht ist es so
auch ganz in der Ordnung ... Ich hatte ja auch damals auf meinen Brief
keine Antwort bekommen ... Nun also, leben Sie wohl, und entschuldigen
Sie, daß ich gestört habe!«
    Die Miene des Fürsten war in diesem Augenblick so freundlich und
sein Lächeln so frei von jeder Beimischung irgendeines verborgenen
feindseligen Gefühls, daß der General plötzlich stutzte und seinen Gast
in anderer Weise ansah; die ganze Veränderung seiner Ansicht vollzog
sich in einem einzigen Moment.
    »Wissen Sie, Fürst«, sagte er in ganz anderem Ton, »ich kenne Sie ja
noch gar nicht, und auch Lisaweta Prokofjewna wird vielleicht den
Wunsch haben, ihren Namensvetter zu sehen ... Warten Sie doch ein
Weilchen, wenn Sie wollen und Ihre Zeit es erlaubt.«
    »Oh,

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