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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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sprechen. Auf
diesem Gebiet unterliegt es keinem Zweifel, daß Schüchternheit und
völliger Mangel an eigener Initiative dauernd bei uns als das
wichtigste und beste Merkmal eines Praktikers gegolten haben und sogar
noch heutzutage dafür gelten. Aber wozu sollen wir nur uns selbst
beschuldigen – wenn anders es eine Beschuldigung ist, von jemand zu
sagen, daß er diese Anschauung hat? Der Mangel an Originalität hat
überall in der ganzen Welt von den Urzeiten her immer für die
vorzüglichste Eigenschaft und beste Empfehlung eines tüchtigen
Geschäftsmannes und Praktikers gegolten, und mindestens neunundneunzig
Prozent der Menschen (das ist sogar noch ein sehr niedriger Ansatz)
sind immer dieser Ansicht gewesen, und immer nur vielleicht ein Prozent
urteilte und urteilt darüber anders.
    Erfinder und Genies sind sehr oft beim Beginn ihrer Laufbahn (und
sehr oft auch am Ende derselben) für nichts anderes als für Dummköpfe
gehalten worden; das ist eine ganz geläufige Beobachtung, eine
allgemein bekannte Tatsache. Wenn zum Beispiel mehrere Jahrzehnte lang
alle Leute ihr Geld nach der Leihbank trugen und Milliarden dorthin
zusammenschleppten, die ihnen mit vier Prozent verzinst wurden, so
mußte selbstverständlich, als die Leihbank ab geschafft wurde und alle
sich auf ihre eigene Initiative angewiesen sahen, der größte Teil jener
Milliarden unfehlbar im Aktienfieber und in den Händen von Gaunern
untergehen – und das forderten sogar der Anstand und die gute Sitte.
Namentlich die gute Sitte; wenn eine wohlgesittete Schüchternheit und
ein wohlanständiger Mangel an Originalität bei uns bisher nach der
allgemeinen Anschauung eine unerläßliche Eigenschaft eines tüchtigen,
ordentlichen Menschen bildeten, so wäre es geradezu ungehörig und
unschicklich, sich plötzlich zu ändern. Welche Mutter zum Beispiel, die
ihr Kind zärtlich liebt, wird nicht einen Schreck bekommen und vor
Angst krank werden, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter auch nur ein wenig
das gewohnte Geleise verläßt? »Nein«, denkt jede Mutter, die ihr Kind
in Schlaf wiegt, »mag es lieber ohne Originalität glücklich sein und
zufrieden leben!« Und wenn unsere Kinderfrauen die Kinder in der Wiege
schaukeln, so sprechen und singen sie dabei seit undenklichen Zeiten:
»In goldenen Kleidern wirst du gehen, ›Exzellenz‹ wird man zu dir
sagen!« Somit galt auch bei unseren Kinderfrauen der Generalsrang von
jeher für den Gipfelpunkt russischen Glücks und war also das populärste
nationale Ideal eines schönen, ruhigen, seligen Daseins. Und in der
Tat: wer, der sein Examen auch nur mittelmäßig bestanden und dann
fünfunddreißig Jahre gedient hatte, konnte bei uns nicht schließlich
Exzellenz werden und sich eine erkleckliche Summe auf der Bank
zusammensparen? Auf diese Weise erlangte der Russe fast ohne alle
Anstrengung schließlich eine Stellung, wie sie eigentlich nur einem
tüchtigen, praktischen Menschen zukommt. Wahrhaftig, eine
Unmöglichkeit, Exzellenz zu werden, bestand bei uns nur für einen
originellen Menschen, mit andern Worten: für einen unruhigen Kopf.
Vielleicht liegt hier bis zu einem gewissen Grade ein Mißverständnis
vor; aber im allgemeinen scheint es doch zuzutreffen, und unsere
Gesellschaft war vollkommen berechtigt, sich ihr Ideal eines
praktischen Menschen in dieser Weise zu gestalten. Indessen wir haben
vieles gesagt, was nicht hierhergehört; wir wollten eigentlich nur ein
paar erklärende Worte über die uns bekannte Familie Jepantschin sagen.
Diese Leute oder wenigstens diejenigen Familienmitglieder, die am
meisten zum Nachdenken veranlagt waren, litten beständig an einer ihnen
fast allen gemeinsamen Familieneigenschaft, die denjenigen Tugenden,
über die wir soeben gesprochen haben, gerade entgegengesetzt war. Ohne
diese Tatsache völlig zu verstehen (weil das eben seine Schwierigkeiten
hatte), hatten sie doch manchmal einen Argwohn, daß in ihrer Familie
alles nicht so zugehe wie bei andern Leuten. Bei allen andern Leuten
ging es glatt, bei ihnen haperte es; alle andern fuhren im
hergebrachten Geleise, sie dagegen sprangen alle Augenblicke aus dem
Geleise heraus. Alle andern zeigten stets eine wohlanständige
Schüchternheit, sie nicht. Lisaweta Prokofjewna war allerdings sogar im
Übermaß ängstlich; aber es war dies nicht jene wohlanständige, zum
guten Ton gehörige Ängstlichkeit, die ihnen so erstrebenswert schien.
Übrigens war Lisaweta Prokofjewna vielleicht die einzige, die sich
darüber beunruhigte:

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