Der Idiot
welches
hineinzugehen sie sich fürchtete. Der Traum wurde von den beiden andern
Schwestern sofort unter großem Gelächter triumphierend der Mutter
mitgeteilt; aber diese wurde wieder ärgerlich und nannte sie alle drei
Dummköpfe. »Hm! Sie besitzt die Seelenruhe eines Dummkopfs, sie ist
eine vollständige Suse und läßt sich nicht aufrütteln; aber dabei ist
sie doch traurig und sieht manchmal ganz trübselig aus! Worüber mag sie
sich grämen? Ja, worüber?« Mitunter richtete sie diese Frage auch an
Iwan Fjodorowitsch, und zwar nach ihrer Gewohnheit in großer Erregung,
in drohendem Ton und in Erwartung einer unverzüglichen Antwort. Iwan
Fjodorowitsch sagte: »Hm!«, machte ein finsteres Gesicht, zuckte mit
den Schultern und gab endlich, die Arme ausbreitend, sein Urteil dahin
ab:
»Sie muß einen Mann bekommen!«
»Nur wolle Gott ihr nicht einen solchen bescheren, wie Sie einer
sind, Iwan Fjodorowitsch!« explodierte Lisaweta Prokofjewna plötzlich
wie eine Bombe. »Nicht einen mit solchen Anschauungen und Urteilen wie
Sie, Iwan Fjodorowitsch; nicht einen solchen groben Grobian wie Sie,
Iwan Fjodorowitsch ...«
Iwan Fjodorowitsch machte schleunigst, daß er davonkam, und Lisaweta
Prokofjewna beruhigte sich nach dieser »Explosion«. Selbstverständlich
war sie am Abend dieses Tages besonders liebenswürdig, sanft,
freundlich und respektvoll gegen Iwan Fjodorowitsch, gegen ihren
»groben Grobian« Iwan Fjodorowitsch, gegen ihren guten, lieben,
vergötterten Iwan Fjodorowitsch; denn in Wirklichkeit liebte sie ihren
Iwan Fjodorowitsch ihr ganzes Leben lang, ja sie war in ihn sogar
verliebt, was Iwan Fjodorowitsch selbst genau wußte, der auch
seinerseits seine Lisaweta Prokofjewna außerordentlich hochschätzte.
Aber die ärgste Qual bereitete ihr beständig Aglaja.
»Sie ist ganz, aber auch ganz wie ich, mein Ebenbild in jeder
Beziehung«, sagte Lisaweta Prokofjewna bei sich im stillen, »ein
eigenwilliger, abscheulicher Unhold! Eine Nihilistin, eine verdrehte
Schraube, verrückt, boshaft, boshaft, boshaft! O Gott, wie unglücklich
wird sie werden!«
Aber, wie schon gesagt, die aufgehende Freudensonne besänftigte und
erhellte alles für eine Weile. Infolgedessen gab es in Lisaweta
Prokofjewnas Leben fast einen ganzen Monat, in dem sie sich von aller
Unruhe wieder völlig erholte. Anläßlich der nahe bevorstehenden
Hochzeit Adelaidas wurde in den vornehmen Kreisen auch über Aglaja viel
gesprochen, und dabei benahm sich Aglaja überall ganz vortrefflich,
ruhig, verständig, auch etwas siegesgewiß und stolz; aber das stand ihr
ja gerade gut! Den ganzen Monat über war sie so freundlich und
liebenswürdig gegen ihre Mutter! (»Allerdings, diesen Jewgeni
Pawlowitsch muß man sich noch sehr, sehr genau ansehen und gründlich
kennenlernen; Aglaja scheint ja auch an ihm nicht sehr viel mehr
Gefallen zu finden als an andern!«) Sie war auf einmal ein so
prächtiges Mädchen geworden; und wie schön sie war, o Gott, wie schön,
von Tag zu Tag wurde sie schöner! Und da ...
Und da war nun soeben dieser gräßliche Fürst wie der erschienen,
dieser jämmerliche Idiot, und alles war wieder in Unruhe geraten, alles
ging wieder im Haus drunter und drüber!
Was war denn eigentlich geschehen?
Andere hätten wohl kaum gespürt, daß etwas Besonderes vorgegangen
sei. Aber Lisaweta Prokofjewna zeichnete sich eben dadurch aus, daß sie
in dem bunten Durcheinander der gewöhnlichsten Dinge bei ihrer steten
Unruhe immer etwas herausfand, was sie manchmal mit einer geradezu
krankhaften Angst, mit einer unerklärlichen, argwöhnischen und
infolgedessen höchst peinlichen Furcht erfüllte. Wie mußte ihr da
zumute sein, als jetzt plötzlich aus der ganzen wüsten Menge
lächerlicher, unbegründeter Befürchtungen wirklich etwas herausschaute,
was tatsächlich wichtig zu sein schien, etwas, was tatsächlich zu
Beunruhigung, Zweifel und Argwohn Anlaß gab!
»Wie hat nur jemand wagen können, wie hat nur jemand wagen können,
mir diesen verdammten anonymen Brief über diese ›Kreatur‹ zu schreiben,
mir zu schreiben, daß sie mit Aglaja Beziehungen unterhalte?« dachte
Lisaweta Prokofjewna auf dem ganzen Weg, während sie den Fürsten hinter
sich herzog, und zu Hause, als sie ihn an dem runden Tisch Platz nehmen
ließ, um den die ganze Familie versammelt war; »wie hat sich nur jemand
so etwas zuschulden lassen können? Ich müßte mich ja totschämen, wenn
ich auch nur die Spur davon glaubte oder diesen Brief Aglaja
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