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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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Parlaments, das heißt, mich
interessieren dabei nicht die Gegenstände, über die sie beraten (wissen
Sie, ich bin kein Politiker), sondern die Art, wie sie untereinander
reden und sich sozusagen wie Staatsmänner benehmen: ›Der sehr
ehrenwerte Vicomte, der mir gegenüber sitzt‹, ›der sehr ehrenwerte
Graf, der meine Ansicht teilt‹, ›mein sehr ehrenwerter Gegner, der
durch seinen Antrag Europa in Erstaunen versetzt hat‹, das heißt diese
ganze Ausdrucksweise, dieser ganze Parlamentarismus eines freien Volkes
– das hat für unsereinen etwas Verlockendes. Dafür begeistere ich mich,
Fürst. Ich bin immer in tiefster Seele ein Künstler gewesen, das
schwöre ich Ihnen, Jewgeni Pawlowitsch.«
    »Und was ist nun das Resultat aus alledem?« ereiferte sich Ganja an
einer andern Ecke des Tisches. »Ihrer Meinung nach ergibt sich daraus,
daß die Eisenbahnen verflucht sind, daß sie das Verderben der
Menschheit sind, daß sie eine Pest sind, die die Erde befallen hat, um
die ›Quellen des Lebens‹ zu trüben?«
    Gawrila Ardalionowitsch befand sich, wie es dem Fürsten schien, an
diesem Abend in einer besonders angeregten, heiteren und beinah
triumphierenden Stimmung.
    Mit Lebedjew trieb er offenbar Scherz, indem er ihn aufstachelte; aber er wurde dabei bald selbst hitzig.
    »Nicht die Eisenbahnen, nein!« versetzte Lebedjew, der zu gleicher
Zeit außer sich geriet und einen maßlosen Genuß empfand. »Was die
Quellen des Lebens trübt, das sind nicht speziell die Eisenbahnen;
sondern all diese verdammten Dinge zusammen sind verflucht; diese ganze
Richtung der letzten Jahrhunderte mit ihren gesamten wissenschaftlichen
und praktischen Zielen ist vielleicht tatsächlich verflucht.«
    »Tatsächlich verflucht, oder nur vielleicht verflucht? Das zu wissen ist wichtig«, fragte Jewgeni Pawlowitsch.
    »Verflucht, verflucht, tatsächlich verflucht!« versicherte Lebedjew hitzig.
    »Übereilen Sie sich nicht, Lebedjew; Sie sind morgens immer viel gutmütiger«, bemerkte Ptizyn lächelnd.
    »Aber dafür bin ich abends offenherziger! Abends bin ich
vertraulicher und offenherziger!« rief Lebedjew, sich mit Lebhaftigkeit
zu ihm wendend. »Aufrichtiger und bestimmter, ehrlicher und achtbarer;
und wenn ich euch auch allen damit ins Gesicht schlage, das ist mir
ganz gleichgültig. Jetzt fordere ich euch alle heraus, euch Atheisten
alle: wodurch werdet ihr die Welt retten, und wodurch habt ihr für die
Welt den rechten Weg gefunden, ihr Männer der Wissenschaft und der
Industrie, die ihr immer von Verbänden und Arbeitslöhnen und solchen
Dingen redet? Wodurch? Durch den Kredit? Was ist das für ein Ding, der
Kredit? Wohin wird euch der Kredit führen?«
    »Sind Sie aber mal neugierig!« bemerkte Jewgeni Pawlowitsch.
    »Meiner Ansicht nach ist jeder, der sich für solche religiösen Fragen nicht interessiert, ein geckenhafter Hohlkopf!«
    »Aber der Kredit hat doch die Wirkung, die Interessen solidarisch zu machen und ins Gleichgewicht zu setzen«, bemerkte Ptizyn.
    »Weiter aber auch nichts, weiter nichts! Von irgendeiner sittlichen
Grundlage ist dabei nicht die Rede, sondern nur von einer Befriedigung
des persönlichen Egoismus und des materiellen Bedürfnisses. Der
allgemeine Friede, das allgemeine Glück soll durch die Befriedigung des
Bedürfnisses herbeigeführt werden? Wenn ich mir die Frage erlauben
darf: verstehe ich Sie da auch recht, mein Herr?«
    »Aber es ist doch ein allgemeines Bedürfnis, zu leben, zu essen und
zu trinken, und die wissenschaftlich völlig feststehende Überzeugung,
daß dieses Bedürfnis nur durch einen allgemeinen Zusammenschluß und
eine Solidarität der Interessen befriedigt werden kann, ist, wie mir
scheint, ein Gedanke von hinreichender Kraft, um als Stützpunkt und
›Quelle des Lebens‹ für künftige Jahrhunderte der Menschheit zu
dienen«, bemerkte Ganja, der jetzt im Ernst hitzig geworden war.
    »Das Bedürfnis zu essen und zu trinken, das heißt also nur der Selbsterhaltungstrieb ...«
    »Genügt etwa der bloße Selbsterhaltungstrieb nicht? Der Selbsterhaltungstrieb ist doch das Fundamentalgesetz der Menschheit ...«
    »Wer hat Ihnen das gesagt?« rief auf einmal Jewgeni Pawlowitsch.
»Daß er ein Gesetz ist, das ist richtig; aber fundamental ist dieses
Gesetz nicht in höherem Grade als das Gesetz des Zerstörungstriebes und
vielleicht auch als das vom Trieb der Selbstzerstörung. Besteht denn
etwa das ganze Fundamentalgesetz der Menschheit einzig und allein

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