Der Idiot
unserer Zeit wird in unserem
Vaterland, das Sie, meine Herren, wie ich hoffe, ebenso lieben, wie ich
es tue (denn ich meinerseits bin bereit, sogar all mein Blut für
dasselbe zu vergießen) ...«
»Weiter! Weiter!«
»In unserem Vaterland wird, ebenso wie im übrigen Europa, die
Menschheit von allgemeinen, weite Landstrecken umfassenden Hungersnöten
heimgesucht, und zwar, soweit sich das berechnen läßt und ich mich
erinnern kann, jetzt nicht häufiger als einmal im Vierteljahrhundert,
mit andern Worten einmal alle fünfundzwanzig Jahre. Über die genaue
Ziffer will ich mich in keinen Streit einlassen; aber es kommt
vergleichsweise selten vor.«
»Im Vergleich womit?«
»Im Vergleich mit dem zwölften Jahrhundert und den vorhergehenden
und nachfolgenden. Denn damals suchten, wie die Schriftsteller
berichten und versichern, allgemeine Hungersnöte die Menschheit alle
zwei Jahre oder wenigstens alle drei Jahre einmal heim, so daß bei
einer solchen Lage der Dinge die Menschen sogar zum Kannibalismus ihre
Zuflucht nahmen, wenn auch nur im geheimen. Einer dieser Übeltäter
erklärte, als er zu höherem Alter gelangt war, aus freien Stücken und
ohne jeden Zwang, er habe im Laufe seines langen, ärmlichen Lebens
persönlich in aller Heimlichkeit sechzig Mönche umgebracht und
aufgegessen, dazu noch einige Laienkinder, vielleicht sechs Stück, aber
nicht mehr, das heißt außerordentlich wenige im Vergleich zu der Zahl
der von ihm verzehrten Geistlichen. An erwachsene Laien hatte er, wie
sich herausstellte, sich nie zu diesem Zweck herangemacht.«
»Das ist unmöglich!« rief der den Vorsitz führende General selbst,
in einem Ton, als ob er sich persönlich beleidigt fühlte. »Ich
diskutiere und debattiere häufig mit ihm, meine Herren, und immer über
ähnliche Themata; aber meistens bringt er so absurdes, unglaubliches
Zeug vor, daß einem ordentlich die Ohren davon weh tun!«
»General! Denke an die Belagerung von Kars, und Sie, meine Herren,
mögen wissen, daß mein Geschichtchen die reine Wahrheit ist.
Meinerseits bemerke ich, daß fast jedes tatsächliche Ereignis, wenn es
auch auf unabänderlichen Gesetzen beruht, doch etwas Unwahrscheinliches
an sich hat. Und je tatsächlicher es ist, um so unwahrscheinlicher
kommt es einem manchmal vor.«
»Aber ist es denn möglich, sechzig Mönche aufzuessen?« rief man ringsum unter Lachen.
»Er hat sie ja doch offenbar nicht auf einmal gegessen, sondern
vielleicht im Laufe von fünfzehn oder zwanzig Jahren, und dann
erscheint die Sache schon ganz verständlich und natürlich ...«
»Und natürlich?«
»Und natürlich!« wiederholte Lebedjew bissig mit pedantischer
Hartnäckigkeit. »Überdies ist ein katholischer Mönch schon von Natur
zutraulich und neugierig und läßt sich leicht in den Wald oder an sonst
einen einsamen Ort locken, wo man dann in der geschilderten Weise mit
ihm verfährt – aber trotzdem will ich nicht bestreiten, daß die Anzahl
der aufgegessenen Personen sehr groß erscheint und sogar auf
Unmäßigkeit hinweist.«
»Vielleicht ist die Geschichte doch wahr, meine Herren«, bemerkte
auf einmal der Fürst. Bisher hatte er den Streitenden stillschweigend
zugehört und sich nicht in das Gespräch gemischt; oft hatte er bei den
allgemeinen Ausbrüchen von Heiterkeit herzlich mitgelacht. Man konnte
ihm anmerken, daß er sich sehr darüber freute, daß es so lustig und
lärmend herging, und auch darüber, daß sie soviel tranken. Vielleicht
hätte er den ganzen Abend über kein Wort gesagt; aber es kam ihn auf
einmal die Lust an zu reden. Und zwar redete er mit großem Ernst, so
daß alle sich auf einmal neugierig zu ihm wandten.
»Ich möchte speziell darüber ein Wort sagen, meine Herren, daß
damals so häufig Hungersnöte vorkamen. Davon habe auch ich gehört,
obwohl ich in der Weltgeschichte nur schlecht bewandert bin. Aber es
scheint, daß es gar nicht anders sein konnte. Als ich in die Schweizer
Berge verschlagen war, staunte ich sehr über die Ruinen der alten
Ritterburgen, die an den Bergabhängen auf steilen Felsen gebaut sind,
in einer vertikalen Höhe von mindestens einer halben Werst (das
bedeutet einen mehrere Werst langen Aufstieg auf den hinaufführenden
Pfaden). Es ist ja bekannt, was eine solche Burg ist: ein ganzer Berg
von Steinen. Eine furchtbare, unglaubliche Arbeit! Und all diese Burgen
mußten die armen Menschen, die Vasallen, bauen. Außerdem mußten sie
allerlei Abgaben zahlen und die Geistlichkeit unterhalten. Wie
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