Der Idiot
im
Selbsterhaltungstrieb?«
»Ah!« rief Ippolit, indem er sich schnell zu Jewgeni Pawlowitsch
hinwandte und ihn mit scheuer Neugier betrachtete; aber als er sah, daß
dieser lachte, lachte er ebenfalls, stieß den neben ihm stehenden Kolja
an und fragte ihn wieder, was die Uhr sei; ja, er zog sogar Koljas
silberne Taschenuhr selbst zu sich heran und blickte eifrig nach den
Zeigern.
Dann streckte er sich, wie wenn er alles vergessen hätte, auf dem
Sofa aus, legte die Hände hinter den Kopf und sah nach der Decke; aber
eine halbe Minute darauf saß er schon wieder aufrecht am Tisch und
hörte das Geschwätz Lebedjews mit an, der im höchsten Grade hitzig
geworden war.
»Das ist ein heimtückischer, spöttischer, aufstachelnder Gedanke!«
erwiderte Lebedjew eifrig auf Jewgeni Pawlowitschs paradoxe Behauptung.
»Ein Gedanke, den Sie nur mit der Absicht ausgesprochen haben, die
Gegner zum Kampf aufzuhetzen – aber ein richtiger Gedanke! Denn Sie als
weltlich gesinnter Spötter und Kavallerist (wiewohl Sie nicht ohne
Fähigkeiten sind) wissen selbst nicht, ein wie tiefsinniger, wahrer
Gedanke Ihr Gedanke ist! Jawohl! Das Gesetz der Selbstzerstörung und
das Gesetz der Selbsterhaltung sind in der Menschheit gleich stark! Wie
Gott, so beherrscht in gleicher Weise der Teufel die Menschheit bis zu
einem uns noch unbekannten Zeitpunkt. Sie lachen? Sie glauben nicht an
den Teufel? Der Unglaube an den Teufel ist ein französischer Gedanke,
ein leichtfertiger Gedanke. Wissen Sie, wer der Teufel ist? Kennen Sie
seinen Namen? Und obgleich Sie nicht einmal seinen Namen kennen, lachen
Sie wie Voltaire über seine Gestalt, über seine Hufe, seinen Schwanz
und seine Hörner, die Sie doch selbst erfunden haben; denn der böse
Geist ist ein großer, furchtbarer Geist und hat keine Hufe und Hörner,
die Sie ihm andichten. Aber darum handelt es sich jetzt nicht.«
»Woher wissen Sie, daß es sich jetzt nicht um ihn handelt?« rief Ippolit plötzlich und lachte wie in einem krampfhaften Anfall.
»Das ist ein geschickter Gedanke, der eine feine Andeutung enthält!«
lobte Lebedjew. »Aber dennoch handelt es sich nicht darum, sondern wir
beschäftigen uns mit der Frage, ob nicht ›die Quellen des Lebens‹
abnehmen infolge des Wachstums ...«
»Der Eisenbahnen?!« rief Kolja.
»Nicht der Eisenbahnverbindungen, Sie junger Hitzkopf, sondern jener
ganzen Richtung, für die die Eisenbahnen sozusagen als Illustration,
als künstlerischer Ausdruck dienen können. Man eilt und lärmt und pocht
und hastet, wie man sagt, um die Menschheit glücklich zu machen! ›Es
wird gar zu geräuschvoll und industriös in der Menschheit; es gibt zu
wenig geistige Ruhe‹, klagt ein Denker, der sich in die Einsamkeit
zurückgezogen hat. ›Das mag sein; aber das Rasseln der Lastwagen, die
der hungrigen Menschheit Brot zuführen, ist vielleicht noch besser als
die geistige Ruhe‹, erwidert ihm siegesgewiß ein anderer Denker, einer
der überall geschäftig umherreist, und geht eitel und selbstgefällig
von ihm weg. Aber ich, der schändliche Lebedjew, glaube nicht an die
Lastwagen, die der Menschheit Brot zuführen! Denn die Lastwagen, die
der ganzen Menschheit Brot zuführen sollen, können, wenn es ihnen an
einer sittlichen Grundlage für ihr Handeln fehlt, auch ganz kaltblütig
einen beträchtlichen Teil der Menschheit von dem Genuß des zugeführten
Brotes ausschließen, was auch schon dagewesen ist ...«
»Die Lastwagen können ganz kaltblütig ausschließen?« fragte jemand.
»Was auch schon dagewesen ist«, wiederholte Lebedjew, ohne die Frage
irgendwelcher Beachtung zu würdigen. »Es hat schon einen Menschenfreund
wie Malthus gegeben. Aber ein Menschenfreund mit schwankender
sittlicher Grundlage wird zu einem Menschenfresser, gar nicht zu reden
von seiner Eitelkeit: denn man verletze die Eitelkeit irgendeines
dieser zahllosen Menschenfreunde, und er wird sofort bereit sein, aus
kleinlicher Rachsucht die Welt an allen vier Enden anzuzünden –
übrigens, um gerechterweise die Wahrheit zu sagen, genau so wie jeder
von uns und wie auch ich, der Schändlichste von allen; denn ich würde
vielleicht der erste sein, der Holz dazuträgt und selbst davonläuft.
Aber darum handelt es sich jetzt nicht!«
»Aber um was handelt es sich denn schließlich?«
»Langweiliges Gerede!«
»Es handelt sich um das folgende Geschichtchen aus früheren
Jahrhunderten; denn ich sehe mich genötigt, ein Geschichtchen aus
früheren Jahrhunderten zu erzählen. In
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