Der Idiot
daß Sie keinen Anlaß haben,
über mich zu grinsen, und für Sie, General, schickt sich das nun schon
ganz und gar nicht. Zweitens ist ein Kind meiner Ansicht nach nicht
nahrhaft, vielleicht sogar von zu süßlichem, fadem Geschmack, so daß
sein Genuß, ohne die Bedürfnisse des Magens zu befriedigen, nur
Gewissensbisse hinterläßt. Jetzt kommt nun die Schlußfolgerung, das
Finale, meine Herren, das Finale, in welchem die Antwort auf eine der
wichtigsten Fragen der damaligen und der jetzigen Zeit enthalten ist!
Der Verbrecher geht zu guter Letzt hin, denunziert sich bei der
Geistlichkeit und übergibt sich in die Hände der Gerechtigkeit. Man
bedenke, welche Qualen ihn in damaliger Zeit erwarteten, welche Räder,
Scheiterhaufen und Flammen! Was hat ihn dazu getrieben, hinzugehen und
sich zu denunzieren? Warum ist er nicht einfach bei der Zahl sechzig
stehengeblieben und hat sein Geheimnis bis zu seinem letzten Atemzug
bewahrt? Warum hat er nicht einfach dem Verspeisen von Mönchen entsagt
und büßend als Einsiedler gelebt? Warum ist er endlich nicht selbst
Mönch geworden? Hier ist die Lösung! Also gab es etwas, was stärker war
als alle Scheiterhaufen und Flammen, stärker selbst als eine
zwanzigjährige Gewohnheit! Also gab es eine Idee, die stärker war als
alle Leiden, Mißernten, Foltern, Pest, Aussatz und all diese
Höllenqualen, die die Menschheit ohne jene allumfassende Idee, die den
Seelen die Richtung gab und die Lebensquellen befruchtete, nicht hätte
ertragen können! Zeigen Sie mir etwas Ähnliches, gleich Starkes in
unserem Jahrhundert der Laster und der Eisenbahnen ... das heißt, ich
sollte eigentlich sagen: in unserem Jahrhundert der Dampfschiffe und
der Eisenbahnen; aber ich sage: in unserem Jahrhundert der Laster und
der Eisenbahnen; denn ich bin betrunken, aber gerecht! Zeigen Sie mir
eine die jetzige Menschheit umfassende Idee, die auch nur halb so stark wäre wie die jener
Jahrhunderte! Wagen Sie schließlich zu sagen, daß die Quellen des
Lebens unter diesem ›Stern‹, diesem Netz, das die Menschen umstrickt,
nicht schwächer fließen, nicht trübe geworden sind! Suchen Sie mich
nicht durch Ihre Reden von der Wohlhabenheit, vom Reichtum, von der
Seltenheit des Hungers und von der Schnelligkeit der Verkehrsmittel zu
schrecken! Der Reichtum ist größer geworden, aber die sittliche Kraft
geringer; die allumfassende Idee fehlt; alles ist schlaff geworden,
alles ist ausgekocht, alle Menschen sind ausgekocht! Wir alle, wir
alle, wir alle sind ausgekocht ...! Aber genug davon; darum handelt es
sich jetzt nicht, sondern darum, ob wir nicht den für die Gäste
hergerichteten Imbiß auftragen lassen sollen, hochverehrter Fürst?«
Lebedjew, der einige seiner Zuhörer schon wirklich unwillig gemacht
hatte (es muß übrigens bemerkt werden, daß während der ganzen Zeit
ununterbrochen neue Flaschen entkorkt wurden), versöhnte durch den
unerwarteten Schluß seiner Rede, durch den Hinweis auf den Imbiß,
sogleich alle seine Gegner wieder mit sich. Er selbst nannte einen
solchen Schluß einen geschickten Advokatenkniff. Es erhob sich wieder
heiteres Gelächter; die Gäste wurden wieder lebendig; alle standen vom
Tisch auf, um die Glieder zu recken und in der Veranda umherzugehen.
Nur Keller fühlte sich durch Lebedjews Rede nicht befriedigt und befand
sich in starker Aufregung.
»Er greift die Aufklärung an, predigt den Fanatismus des zwölften
Jahrhunderts, spielt den Tugendhaften, ohne doch im Herzen unschuldig
zu sein: möchten Sie ihn nicht einmal fragen, auf welche Weise er
selbst sich ein Haus erworben hat?« sagte er laut, indem er alle und
jeden anhielt.
»Ich habe einen echten Erklärer der Offenbarung des Johannes
gekannt«, sagte der General in einer andern Ecke zu andern Zuhörern,
unter denen sich auch Ptizyn befand, den er an einen Knopf gefaßt
hatte, »den verstorbenen Grigori Semjonowitsch Burmistrow; der verstand
es, die Herzen sozusagen zu entflammen. Zuerst setzte er sich die
Brille auf und schlug ein großes, altes Buch in schwarzem Ledereinband
auf; na, und dazu der graue Bart und zwei Tapferkeitsmedaillen! Er
begann seine Auslegung mit finsterer, strenger Miene; selbst Generäle
verbeugten sich vor ihm, und Damen fielen in Ohnmacht. Na, und dieser
hier schließt mit einem Imbiß! Ein ganz tolles Benehmen!«
Ptizyn lächelte, während er dem General zuhörte, und hatte
anscheinend die Absicht, nach seinem Hut zu greifen; aber entweder
konnte er sich nicht dazu
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