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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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entschließen, oder er vergaß sein Vorhaben
beständig wieder. Ganja hatte schon vor dem Augenblick, wo alle vom
Tisch aufgestanden waren, auf einmal aufgehört zu trinken und sein Glas
von sich fortgeschoben; ein düsterer Ausdruck war über sein Gesicht
hinweggezogen. Als man sich vom Tisch erhob, trat er zu Rogoschin und
setzte sich neben ihn. Man konnte denken, daß sie in den
freundschaftlichsten Beziehungen zueinander standen. Rogoschin, der
anfangs ebenfalls mehrere Male vorgehabt hatte, sachte wegzugehen, saß
jetzt regungslos da, mit gesenktem Kopf, und als ob auch er vergessen
hätte, daß er hatte weggehen wollen. Er hatte den ganzen Abend über
keinen Tropfen Wein getrunken und war sehr nachdenklich gewesen; nur
selten hatte er die Augen aufgeschlagen und jeden einzelnen angeblickt.
Jetzt aber konnte man denken, daß er hier auf etwas für ihn sehr
Wichtiges warte und vorher nicht weggehen wolle.
    Der Fürst hatte nicht mehr als zwei oder drei Gläser getrunken und
war nur lustig. Als er vom Tisch aufstand, begegneten sich seine und
Jewgeni Pawlowitschs Blicke; er erinnerte sich an ihre bevorstehende
Unterredung und lächelte freundlich. Jewgeni Pawlowitsch nickte ihm zu
und zeigte auf Ippolit, den er soeben aufmerksam betrachtet hatte.
Ippolit lag auf dem Sofa ausgestreckt und schlief.
    »Sagen Sie, Fürst, warum hat sich dieser Junge wie eine Klette an
Sie gehängt?« fragte er mit so offensichtlichem Ärger und sogar in so
grimmigem Ton, daß der Fürst erstaunt war. »Ich möchte darauf wetten,
daß er nichts Gutes im Schilde führt!«
    »Ich habe bemerkt«, antwortete der Fürst, »oder es ist mir
wenigstens so vorgekommen, als ob er Sie heute ganz besonders
interessierte, Jewgeni Pawlowitsch; ist das richtig?«
    »Sie können noch hinzufügen, daß ich eigentlich an meinen eigenen
Angelegenheiten Stoff genug zum Nachdenken hätte; und ich wundere mich
selbst darüber, daß ich meine Augen den ganzen Abend über von dieser
widerwärtigen Visage nicht losreißen kann.«
    »Er hat ein hübsches Gesicht ...«
    »Da, da, sehen Sie nur!« rief Jewgeni Pawlowitsch, indem er den Fürsten an den Arm faßte. »Sehen Sie!«
    Der Fürst blickte Jewgeni Pawlowitsch noch einmal verwundert an.

V
    Ippolit, der gegen Ende des Lebedjewschen Vortrags auf dem Sofa
eingeschlafen war, erwachte jetzt plötzlich, wie wenn ihm jemand einen
Stoß in die Seite versetzt hätte, fuhr zusammen, richtete sich auf,
blickte um sich und wurde blaß; es lag sogar ein Ausdruck von Angst und
Schrecken auf seinem Gesicht, als er sich alles ins Gedächtnis
zurückrief und wieder zurechtlegte.
    »Wie? Gehen sie schon weg? Ist es zu Ende? Ist alles zu Ende? Ist
die Sonne schon aufgegangen?« fragte er aufgeregt und griff nach der
Hand des Fürsten. »Was ist die Uhr? Um Gottes willen, was ist die Uhr?
Ich habe die Zeit verschlafen. Wie lange habe ich geschlafen?« fügte er
mit fast verzweifelter Miene hinzu, als ob er etwas verschlafen hätte,
wovon mindestens sein ganzes Schicksal abhinge.
    »Sie haben sieben oder acht Minuten geschlafen«, antwortete Jewgeni Pawlowitsch.
    Ippolit blickte ihn gespannt an und dachte einige Augenblicke nach. »Ah ... nicht mehr! Also kann ich ...«
    Er holte tief und begierig Atem, wie wenn er eine schwere Last von
sich geworfen hätte. Er merkte endlich, daß nichts »zu Ende war«, daß
es noch nicht tagte, daß die Gäste nur wegen des Imbisses vom Tisch
aufgestanden waren, und daß lediglich Lebedjews Geschwätz aufgehört
hatte. Er lächelte, und eine schwindsüchtige Röte erschien in Gestalt
zweier heller Flecke auf seinen Wangen.
    »Sie haben also sogar die Minuten gezählt, während ich schlief,
Jewgeni Pawlowitsch«, sagte er spöttisch. »Sie haben den ganzen Abend
über die Augen nicht von mir abgewandt; ich habe es wohl gesehen ...
Ah, da ist ja Rogoschin! Ich habe soeben von ihm geträumt«, flüsterte
er dem Fürsten zu, indem er ein finsteres Gesicht machte und mit dem
Kopf nach dem am Tisch sitzenden Rogoschin hindeutete. »Ach ja«, fuhr
er mit einem plötzlichen Übergang zu etwas anderem fort, »wo ist denn
der Redner? Wo ist denn Lebedjew? Lebedjew ist also zu Ende? Worüber
hat er denn gesprochen? Ist es wahr, Fürst, daß Sie einmal gesagt
haben, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden? Meine Herren!«
rief er allen laut zu, »der Fürst behauptet, die Welt werde durch die
Schönheit erlöst werden! Und ich behaupte, daß er so leichtsinnige
Gedanken jetzt deshalb hat,

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