Der Idiot
morgen zu lassen?« unterbrach ihn der Fürst schüchtern.
»Morgen ›wird keine Zeit mehr sein‹ 1 «,
erwiderte Ippolit mit einem krampfhaften Lächeln. »Beunruhigen Sie sich
übrigens nicht; das Vorlesen wird nur vierzig Minuten dauern; na – oder
eine Stunde ... Und sehen Sie nur, wie sich alle dafür interessieren;
alle sind sie herbeigekommen; alle sehen sie mein Siegel an; hätte ich
das Schriftstück nicht in ein Kuvert eingesiegelt, so hätte ich gar
keinen Effekt damit gemacht! Haha! Da sieht man, was die
Geheimniskrämerei für eine Bedeutung hat! Soll ich das Kuvert
erbrechen, meine Herren, oder nicht?« rief er mit seinem seltsamen
Lachen und mit blitzenden Augen. »Ein Geheimnis, ein Geheimnis!
Erinnern Sie sich wohl, Fürst, wer das gesagt hat, daß ›hinfort keine
Zeit mehr sein wird‹? Das sagt der starke, mächtige Engel in der
Offenbarung des Johannes.«
»Es ist das beste, daß die Vorlesung unterbleibt!« rief auf einmal
Jewgeni Pawlowitsch; aber sein Gesicht wies dabei eine an ihm so
ungewöhnliche Unruhe auf, daß es vielen sonderbar erschien.
»Lesen Sie nicht!« rief auch der Fürst und legte die Hand auf das Kuvert.
»Wozu jetzt eine Vorlesung? Jetzt ist der Imbiß an der Reihe«, bemerkte jemand.
»Es ist wohl ein Artikel für eine Zeitschrift?« erkundigte sich ein anderer.
»Vielleicht ist es langweilig«, fügte ein dritter hinzu.
»Aber was ist es denn eigentlich?« fragten die übrigen.
Durch die ängstliche Handbewegung des Fürsten schien jedoch auch Ippolit bedenklich geworden zu sein.
»Also ... soll ich es nicht vorlesen?« flüsterte er ihm zaghaft zu,
und ein schiefes Lächeln spielte um seine bläulichen Lippen. »Ich soll
es nicht vorlesen?« murmelte er, indem er seinen Blick über das ganze
Publikum, über alle Augen und Gesichter hingleiten ließ und wieder wie
vorher alle zusammenfaßte. »Fürchten Sie sich?« sagte er, wieder zu dem
Fürsten gewendet.
»Wovor sollte ich mich fürchten?« fragte dieser, dessen Gesichtsausdruck sich immer mehr veränderte.
»Hat jemand ein Zwanzigkopekenstück?« rief Ippolit und sprang von
seinem Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte. »Oder
irgendeine andere Münze?«
»Hier!« sagte Lebedjew, ihm schnell eine Münze hinreichend.
Es huschte ihm der Gedanke durch den Kopf, ob der kranke Ippolit nicht vielleicht irrsinnig geworden sei.
»Wjera Lukjanowna!« rief Ippolit eilig. »Bitte, nehmen Sie die
Münze, und werfen Sie sie auf den Tisch: Adler oder Schrift? Wenn der
Adler kommt, will ich es vorlesen!«
Wjera blickte erschrocken erst das Geldstück, dann Ippolit, darauf
ihren Vater an; dann den Kopf nach oben zurückbiegend, als meine sie,
sie dürfe nun selbst die Münze nicht mehr ansehen, warf sie sie mit
einer ungeschickten Bewegung auf den Tisch. Der Adler kam nach oben zu
liegen.
»Also werde ich es vorlesen!« flüsterte Ippolit, als wäre er durch
die vom Schicksal getroffene Entscheidung niedergeschmettert; er hätte
nicht blasser werden können, wenn man ihm sein Todesurteil vorgelesen
hätte. Nachdem er eine halbe Minute geschwiegen hatte, zuckte er
plötzlich zusammen und sagte: »Was war das übrigens? Habe ich wirklich
soeben das Los befragt?« Er musterte alle ringsumher mit der gleichen
zudringlichen Offenherzigkeit wie vorher. »Aber das ist ja ein
wunderbarer psychologischer Zug!« rief er, sich an den Fürsten wendend,
plötzlich in aufrichtigem Staunen. »Das ... das ist ein unbegreiflicher
Zug, Fürst!« wiederholte er; er wurde lebhafter und schien seine
Gedanken zu sammeln. »Notieren Sie sich das, Fürst; merken Sie es sich;
Sie sammeln ja wohl Material betreffend die Empfindungen vor der
Hinrichtung ... Ich habe mir das sagen lassen, haha! O Gott, was für
ein sinnloses, abgeschmacktes Benehmen!« Er setzte sich auf das Sofa,
stützte die beiden Ellbogen auf den Tisch und faßte sich an den Kopf.
»Da muß man sich ja geradezu schämen ...! Aber was schert mich das, daß
man sich schämen muß!« rief er, den Kopf sogleich wieder in die Höhe
hebend. »Meine Herren, meine Herren! Ich öffne das Kuvert!« verkündete
er mit plötzlicher Entschlossenheit. »Übrigens ... ich zwinge niemand
zuzuhören ...!«
Mit vor Aufregung zitternden Händen erbrach er das Kuvert, nahm
mehrere mit kleiner Schrift bedeckte Bogen Briefpapier heraus, legte
sie vor sich hin und strich sie glatt.
»Was ist denn das? Was ist denn da los? Was wird er vorlesen?«
murmelten manche
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