Der Idiot
überzeugt) darüber traurig
gewesen. Jetzt aber empfinde ich nichts Derartiges, und doch verlasse
ich morgen dieses Zimmer und diese Mauer auf ewig! Also hat meine
Überzeugung, daß es sich um zweier Wochen willen nicht mehr lohnt,
Bedauern zu fühlen oder sich irgendwelchen derartigen Empfindungen zu
überlassen, über meine Natur die Oberhand gewonnen und kann schon jetzt
über alle meine Gefühle die Herrschaft ausüben. Aber ist es auch
wirklich so? Ist es wahr, daß meine Natur jetzt ganz besiegt ist? Wenn
man mich jetzt folterte, so würde ich sicher schreien und nicht sagen,
es lohne sich nicht, zu schreien und Schmerz zu empfinden, da ich ja
doch nur noch zwei Wochen zu leben hätte.
Ist es aber auch wahr, daß ich nur noch zwei Wochen zu leben habe
und nicht mehr? Damals in Pawlowsk habe ich gelogen: B...n hat nichts
zu mir gesagt und hat mich nie gesehen, sondern man hat vor einer Woche
einen Studenten namens Kislorodow zu mir geführt; was seine
Anschauungen anlangt, ist er Materialist, Atheist und Nihilist; eben
deswegen hatte ich gerade ihn rufen lassen; ich wollte jemand haben,
der mir endlich ohne freundliche Schonung und ohne alle Umstände die
nackte Wahrheit sagte. Das tat er denn auch, und zwar nicht nur
bereitwillig und ohne Umstände, sondern sogar mit sichtlichem Vergnügen
(was meiner Ansicht nach nicht nötig gewesen wäre). Er sagte mir
geradeheraus, ich hätte noch ungefähr einen Monat zu leben, vielleicht
etwas mehr, wenn ich in günstige äußere Verhältnisse käme;
möglicherweise aber würde ich auch weit früher sterben. Seiner Meinung
nach könne ich auch ganz plötzlich sterben, zum Beispiel gleich am
nächsten Tag; solche Fälle seien vorgekommen; erst zwei Tage vorher
habe eine schwindsüchtige junge Dame in Kolomna 2 ,
deren Zustand dem meinigen ähnlich gewesen sei, sich zurechtgemacht, um
auf den Markt zu gehen und Lebensmittel einzukaufen, sich aber
plötzlich unwohl gefühlt, sich auf das Sofa gelegt, einen Seufzer
ausgestoßen und sei gestorben. Als Kislorodow mir dies alles mitteilte,
machte er den Eindruck, als renommiere er ein bißchen mit seiner
Gefühllosigkeit und Rücksichtslosigkeit, und als glaube er, mir eine
besondere Ehre zu erweisen, indem er mir nämlich dadurch zeige, daß er
auch mich für ein ebensolches, über alle Vorurteile erhabenes, höheres
Wesen halte, wie er selbst eines sei; für ein Wesen, dem es
selbstverständlich nichts ausmache zu sterben.
Es hat mich sehr gewundert, woher der Fürst vorhin erriet, daß ich
böse Träume habe; er sagte wörtlich, meine Aufregung und meine Träume
würden sich in Pawlowsk bessern. Wie kommt er auf meine Träume?
Entweder ist er Mediziner, oder er besitzt tatsächlich einen
ungewöhnlichen Verstand, so daß er sehr vieles zu erraten vermag. (Daß
er aber im Grunde doch ein Idiot ist, daran kann kein Zweifel
bestehen.) Es traf sich, daß ich gerade vor seiner Ankunft einen
hübschen Traum gehabt hatte (übrigens einen von der Art, wie ich sie
jetzt zu Hunderten habe). Ich war eingeschlafen – ich glaube, eine
Stunde vor seiner Ankunft – und sah mich in einem Zimmer (aber nicht in
dem meinigen). Das Zimmer war größer und höher als das meinige, besser
möbliert und hell; darin standen ein Schrank, eine Kommode, ein Sofa
und mein Bett, ein großes, breites Bett, mit einer grünseidenen
Steppdecke darauf. Aber in diesem Zimmer bemerkte ich ein schreckliches
Tier, eine Art Ungeheuer. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Skorpion, war
aber kein Skorpion, sondern widerwärtiger und weit furchtbarer,
anscheinend eben deswegen, daß es solche Tiere in der Natur nicht gibt,
und daß es sich absichtlich gerade bei mir eingefunden hatte, und daß
eben darin irgendein Geheimnis zu liegen schien. Ich betrachtete es
sehr genau: es war ein mit einer braunen Schale bekleidetes Kriechtier,
ungefähr eine Hand lang, am Kopf etwa zwei Finger dick; nach dem
Schwanz zu wurde es allmählich dünner, so daß die Schwanzspitze selbst
nicht dicker als ein Federkiel war. Etwa zwei Finger breit vom Kopf
entfernt traten in einem Winkel von fünfundvierzig Grad aus dem Rumpf
zwei Pfoten heraus, auf jeder Seite eine, etwa neun Zentimeter lang, so
daß das ganze Tier, von oben gesehen, die Gestalt eines Dreizacks
hatte. Den Kopf konnte ich nicht deutlich erkennen; aber ich sah zwei
Fühler, nicht besonders lang, in Form zweier starker Nadeln,
gleichfalls von brauner Farbe. Zwei ebensolche Fühler befanden sich am
Ende des Schwanzes und am
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