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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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ausgefüllt;
ich erinnere mich jetzt an sie alle.
    Aber soll ich sie denn jetzt wiedererzählen, jetzt, wo auch für mich
die Zeit der Märchen schon vorbei ist? Und wem soll ich sie
wiedererzählen? Ich habe mich damals an ihnen belustigt, als ich klar
sah, daß es mir sogar versagt war, die griechische Grammatik zu lernen;
es fiel mir zur rechten Zeit ein: ›Ehe ich noch bis zur Syntax werde
gelangt sein, werde ich sterben.‹ Das bedachte ich gleich bei der
ersten Seite und warf das Buch unter den Tisch. Da liegt es auch jetzt
noch; ich habe unserer Magd Matrona verboten, es aufzuheben.
    Mag immerhin, wer meine ›Erklärung‹ in die Hände bekommt und die
Geduld hat, sie durchzulesen, mich für einen Geisteskranken halten,
oder auch für einen Gymnasiasten, oder am wahrscheinlichsten für einen
zum Tode Verurteilten, der natürlich der Meinung sein muß, alle
Menschen außer ihm selbst wüßten den Wert des Lebens zu wenig zu
schätzen, hätten sich zu sehr gewöhnt, es zu vergeuden, genössen es zu
träge und zu gewissenlos und seien somit allesamt seiner unwürdig! Mag
man das denken; was tut's? Ich erkläre, daß mein Leser sich irrt, und
daß meine Überzeugung in keiner Weise von meinem Todesurteil abhängig
ist. Man frage doch nur die Menschen, worein sie alle, vom ersten bis
zum letzten, das Glück setzen. Oh, man kann sicher sein, daß Kolumbus
nicht glücklich war, als er Amerika entdeckt hatte, sondern zu der
Zeit, als er es entdecken wollte; man kann sicher sein, daß sein Glück
den Gipfelpunkt vielleicht drei Tage vor der Entdeckung der Neuen Welt
erreicht hatte, als die meuternde Schiffsmannschaft in ihrer
Verzweiflung nahe daran war, das Schiff wieder nach Europa
zurückzuwenden! Nicht darauf kam es an, daß die Neue Welt wirklich
entdeckt wurde; die hätte ruhig untergehen können. Kolumbus starb, fast
ohne sie gesehen zu haben und, was die Hauptsache ist, ohne zu wissen,
was er entdeckt hatte. Es kommt auf das Leben an, einzig und allein auf
das Leben, darauf, daß man ununterbrochen, lebenslänglich damit
beschäftigt ist, zu entdecken, und ganz und gar nicht auf das Entdeckte
selbst! Aber wozu rede ich! Ich fürchte, alles, was ich jetzt sage, hat
mit den landläufigsten Redensarten eine solche Ähnlichkeit, daß man
mich wahrscheinlich für einen Schüler der untersten Klasse halten wird,
der einen Aufsatz über den Sonnenuntergang schreibt, oder sagen wird,
ich hätte zwar etwas vorbringen wollen, beim besten Willen aber nicht
verstanden, mich auszudrücken. Aber ich möchte doch hinzufügen, daß bei
jedem genialen oder neuen Menschengedanken oder einfach sogar bei jedem
ernsten Menschengedanken, der in jemandes Kopf entsteht, immer ein Rest
übrigbleibt, den man andern Menschen nicht mitteilen kann, und wenn man
ganze Bände vollschriebe und seinen Gedanken fünfunddreißig Jahre lang
kommentierte; es bleibt immer ein Rest übrig, der nicht aus dem Schädel
des Urhebers herausgehen will und lebenslänglich darinbleibt; und so
stirbt man denn, ohne jemandem vielleicht gerade den Kernpunkt seines
Gedankens mitgeteilt zu haben. Aber wenn ich auch gleichfalls nicht
verstanden haben sollte, alles mitzuteilen, was mich in diesen sechs
Monaten gequält hat, so werden die Leser wenigstens verstehen, daß ich
meine jetzige ›letzte Überzeugung‹, zu der ich gelangt bin, vielleicht
recht teuer bezahlt habe; ich habe in bestimmter Absicht für notwendig
befunden, dies hier in meiner ›Erklärung‹ hervorzuheben.
    Indessen, ich fahre fort.
Fußnoten
    1 Offenbarung des Johannes, 10,6. (A.d.Ü.)
    2 Ein Stadtteil von Petersburg. (A.d.Ü.)

VI
    Ich will nicht lügen: das tätige Leben hat in diesen sechs Monaten
auch nach mir seinen Angelhaken ausgeworfen und auf mich manchmal eine
solche Anziehungskraft ausgeübt, daß ich mein Todesurteil vergaß oder,
richtiger gesagt, nicht daran denken wollte und sogar anfing, tätig zu
sein. Ich schiebe bei dieser Gelegenheit einige Worte über meine
damalige äußere Lage ein. Als ich vor acht Monaten schon recht krank
wurde, brach ich alle meine Beziehungen ab und sagte mich von all
meinen bisherigen Kameraden los. Da ich von jeher ein recht mürrischer
Geselle gewesen war, so vergaßen sie mich leicht; natürlich hätten sie
mich auch ohne das vergessen. Auch zu Hause, das heißt in der Familie,
stand ich einsam da. Vor etwa fünf Monaten schloß ich mich ein für
allemal von den Meinigen ab und betrat seitdem die Zimmer der Familie
gar nicht mehr. Die

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