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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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schien, mit einem Frack zugedeckt
war. Am Tisch stand der Herr in einem sehr abgetragenen Rock (den
Paletot hatte er schon ausgezogen, und dieser lag auf dem Bett) und
wickelte ein blaues Papier auseinander, in welches zwei Pfund Weißbrot
und zwei kleine Würste eingeschlagen waren. Auf dem Tisch stand
außerdem eine Teekanne mit Tee; auch lagen dort ein paar Stücke
Schwarzbrot umher. Unter dem Bett schaute ein offener Koffer hervor,
desgleichen zwei Bündel mit alten Kleidern.
    Kurz, es herrschte eine furchtbare Unordnung. Ich hatte auf den
ersten Blick den Eindruck, daß sie beide, sowohl der Herr als die Dame,
von besserem Stand, aber durch die Armut in jenen erniedrigenden
Zustand versetzt waren, in dem die Unordnung schließlich jeden Versuch,
gegen sie anzukämpfen, niederschlägt und es den Menschen sogar zu einem
schmerzlichen Bedürfnis macht, in dieser täglich wachsenden Unordnung
selbst ein gewisses bitteres und sozusagen rachsüchtiges Gefühl des
Vergnügens zu finden.
    Als ich eintrat, war dieser Herr, der ebenfalls erst kurz vor mir
hereingekommen war und seine Lebens mittel auswickelte, mit der Frau in
schnellem, lebhaftem Gespräch begriffen; obwohl diese noch mit dem
Trockenlegen des Kindes beschäftigt war, hatte sie doch bereits zu
jammern angefangen; denn die Nachrichten, die der Mann mitgebracht
hatte, waren offenbar wie gewöhnlich schlecht gewesen. Das magere
Gesicht dieses der äußeren Erscheinung nach etwa achtundzwanzigjährigen
Mannes zeigte eine bräunliche Farbe und war umrahmt von einem schwarzen
Backenbart mit glatt ausrasiertem Kinn; es machte mir einen recht
anständigen, sogar angenehmen Eindruck; die Miene war ingrimmig, aber
mit einer krankhaften Beimischung von sehr reizbarem Stolz. Als ich
eintrat, spielte sich eine seltsame Szene ab.
    Es gibt Leute, die in ihrer reizbaren Empfindlichkeit einen
besonderen Genuß finden, namentlich wenn diese (was sich immer sehr
schnell vollzieht) ihren höchsten Grad erreicht; in diesem Augenblick
ist es ihnen, wie es scheint, sogar angenehmer, beleidigt zu sein, als
nicht beleidigt zu sein. Diese reizbaren Menschen werden nachher immer
von heftiger Reue gequält, selbstverständlich wenn sie klug genug sind,
um einzusehen, daß sie sich zehnmal so empfindlich benommen haben, wie
es angemessen gewesen wäre. Dieser Herr blickte mich eine Weile
erstaunt an, die Frau dagegen war so erschrocken, als wäre es ein
furchtbares Wunder, daß auch zu ihnen jemand kam; plötzlich aber
stürzte der Herr, als ich noch kaum ein paar Worte gemurmelt hatte, mit
einer wahren Wut auf mich los; aber namentlich weil er sah, daß ich
anständig gekleidet war, hielt er sich wohl dadurch für schrecklich
beleidigt, daß ich gewagt hatte, so ungeniert in seine elende Wohnung
hereinzukommen und die ganze unordentliche Einrichtung zu betrachten,
deren er sich selbst schämte. Er freute sich gewiß, daß er eine
Gelegenheit gefunden hatte, an irgend jemand seinen Ärger über all
seine Mißerfolge auszulassen. Einen Augenblick lang dachte ich sogar,
er werde auf mich losschlagen: er wurde blaß wie eine Frau bei einem
hysterischen Anfall, worüber seine Frau einen furchtbaren Schreck bekam.
    ›Wie können Sie es wagen, so einzutreten? Hinaus!‹ schrie er
zitternd und kaum imstande, die Worte ordentlich herauszubringen. Aber
plötzlich erblickte er in meiner Hand seine Brieftasche.
    ›Sie haben das wohl verloren?‹ sagte ich in möglichst ruhigem, trockenem Ton. (Das war übrigens das Richtige.)
    Er stand ganz erschrocken vor mir da und konnte eine Weile nichts
begreifen; dann griff er schnell nach seiner Seitentasche, öffnete vor
Schreck den Mund und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.
    ›O Gott! Wo haben Sie es gefunden? Wie ist das zugegangen?‹
    Ich erklärte ihm in kurzen Worten und womöglich in noch trockenerem
Ton als vorher, wie ich die Brieftasche aufgehoben hätte, ihm noch
nachgeeilt wäre und ihm nachgerufen hätte, und wie ich endlich auf
meine Vermutung hin, und beinah nur von meinem Gefühl geleitet, hinter
ihm her die Treppe hinaufgelaufen wäre.
    ›O Gott!‹ rief er, zu seiner Frau gewendet; ›hier sind all unsere
Dokumente darin und meine letzten Instrumente; hier ist alles ..., oh,
mein Herr, wissen Sie, was Sie für mich getan haben? Ich wäre verloren
gewesen!‹
    Ich griff unterdessen nach der Türklinke, um ohne Antwort
fortzugehen; aber ich selbst hatte keine Luft, und plötzlich kam meine
Aufregung in einem so heftigen

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