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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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auf, suchte mir meine Mütze, tat so,
als ob ich von selbst hätte weggehen wollen, und führte mich unter dem
Anschein, mir höflich das Geleit zu geben, ganz einfach aus seinem
finsteren Haus hinaus. Sein Haus überraschte mich; es hat Ähnlichkeit
mit einem Kirchhof; ihm aber scheint es zu gefallen, was übrigens
begreiflich ist: ein so volles, unmittelbares Leben, wie er es führt,
ist an sich schon zu voll, als daß es einer besonderen Umgebung
bedürfte.
    Dieser Besuch bei Rogoschin hatte mich sehr ermüdet. Außerdem hatte
ich mich schon vom Morgen an nicht wohl gefühlt; gegen Abend wurde ich
sehr schwach und legte mich zu Bett; zeitweilig verspürte ich eine
starke Hitze und redete in manchen Augenblicken sogar irre. Kolja blieb
bis nach zehn Uhr bei mir. Ich erinnere mich jedoch an alles, worüber
wir miteinander sprachen. Aber wenn mir für einige Minuten die Lider
zufielen, stand mir sofort Iwan Fomitsch vor Augen, der in den Besitz
mehrerer Millionen Rubel gelangt war. Er wußte gar nicht, wo er damit
bleiben sollte, zerbrach sich darüber den Kopf, zitterte vor Angst, das
Geld könnte ihm gestohlen werden, und beschloß endlich, es in der Erde
zu vergraben. Ich riet ihm nun, statt einen so großen Haufen Gold
nutzlos in die Erde zu legen, möchte er aus der ganzen Masse einen
kleinen Sarg für das erfrorene Kind gießen lassen und zu diesem Zweck
das Kind wieder ausgraben. Diesen meinen Spott nahm Surikow mit Tränen
der Dankbarkeit auf und schritt sogleich zur Ausführung des Planes.
Angeekelt spuckte ich aus und ging von ihm weg. Als ich wieder ganz zur
Besinnung gekommen war, sagte mir Kolja, ich hätte gar nicht geschlafen
und die ganze Zeit über mit ihm von Surikow gesprochen. Zeitweilig
befand ich mich in außerordentlicher Angst und Verwirrung, so daß Kolja
in großer Unruhe fortging. Als ich selbst aufstand, um hinter ihm die
Tür zuzuschließen, fiel mir plötzlich ein Gemälde ein, das ich vorher
bei Rogoschin in einem der düstersten Säle seines Hauses über der Tür
gesehen hatte. Er selbst hatte es mir im Vorbeigehen gezeigt, und ich
hatte ungefähr fünf Minuten lang davorgestanden. In künstlerischer
Hinsicht war an ihm nichts Hervorragendes; aber es hatte in mir eine
eigentümliche Unruhe hervorgerufen.
    Auf diesem Bild ist der soeben vom Kreuz abgenommene Christus
dargestellt. Ich glaube, die Maler pflegen Christus sowohl am Kreuz als
auch nach der Abnahme von demselben immer noch mit außerordentlich
schönem Gesicht darzustellen; diese Schönheit suchen sie ihm sogar bei
den furchtbarsten Leiden zu bewahren. Auf Rogoschins Bild aber kann von
Schönheit nicht die Rede sein; dies ist in jeder Hinsicht der Leichnam
eines Menschen, der schon vor der Kreuzigung, während er das Kreuz auf
seinen Schultern trug und unter ihm zusammensank, grenzenlose Qualen
erlitten hat, Verwundungen, Martern, Schläge von seiten der Wache und
des Volkes, und dann schließlich die sechsstündige Kreuzesqual (solange
dauerte sie nach meiner Berechnung mindestens). Das ist allerdings
wirklich das Gesicht eines soeben vom Kreuz abgenommenen Menschen; das heißt, es
bewahrt noch sehr viel Lebenswärme, es ist an ihm noch nichts erstarrt,
so daß auf dem Gesicht des Toten noch immer ein Ausdruck des Schmerzes
liegt, wie wenn er ihn noch jetzt empfände (dies hat der Künstler sehr
gut erfaßt); aber dafür ist das Gesicht auch ohne jede Schonung
dargestellt, durchaus naturgetreu; so mußte in Wahrheit der Leichnam
eines Menschen, wer dieser auch sein mochte, nach solchen Qualen
aussehen. Ich weiß, daß die christliche Kirche schon in den ersten
Jahrhunderten als Dogma festgestellt hat, daß Christus nicht figürlich,
sondern tatsächlich gelitten habe, und daß folglich sein Körper am
Kreuz dem Naturgesetz voll und ganz unterworfen gewesen sei. Auf dem
Bild ist dieses Gesicht furchtbar von Stockhieben zerschlagen,
verschwollen, von schrecklichen, blutunterlaufenen, blauen Flecken
bedeckt; die Augen stehen weit offen; die Pupillen schielen; die
großen, offen sichtbaren Augäpfel haben einen toten, gläsernen Glanz.
Aber es ist seltsam: betrachtet man diesen Leichnam eines gepeinigten
Menschen, so drängt sich einem eine eigenartige, interessante Frage
auf: wenn alle seine Jünger, die seine wichtigsten Apostel werden
sollten, und die Weiber, die ihm nachgefolgt waren und an seinem Kreuz
gestanden hatten, und alle, die an ihn glaubten und ihn für den Sohn
Gottes hielten, wenn diese alle einen genau solchen

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