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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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trat
er hinzu, liebkoste das Kind und schnipste ihm etwas mit den Fingern
vor, damit es anfinge zu lachen. So verfuhr er viele Jahre lang bis zu
seinem Tod; es kam so weit, daß er in ganz Rußland und in ganz Sibirien
bekannt war, das heißt bei allen Verbrechern. Jemand, der in Sibirien
gewesen ist, hat mir erzählt, er sei selbst Zeuge gewesen, wie die
verstocktesten Verbrecher sich des Generals erinnerten; und dabei
konnte der General, wenn er einen Trupp besuchte, jedem einzelnen
Verschickten selten mehr als zwanzig Kopeken geben. Allerdings
gedachten sie seiner nicht eigentlich mit warmer, tiefer Empfindung.
Ein oder der andere dieser Unglücklichen, der vielleicht zwölf Menschen
ermordet und ein halbes Dutzend Kinder lediglich zu seinem Vergnügen
abgeschlachtet hatte (es heißt ja, daß es solche Menschen gibt),
seufzte plötzlich aus heiler Haut und vielleicht nur einmal im Laufe
seiner zwanzigjährigen Strafzeit auf und sagte: »Was mag jetzt der alte
General machen? Ob er wohl noch lebt?« Dabei lächelte er vielleicht;
das war alles. Aber woher wissen Sie, was für ein Samenkorn in die
Seele dieses Verbrechers von diesem alten General gestreut war, den
derselbe in den zwanzig Jahren nicht vergessen hatte? Woher wissen Sie,
Bachmutow, welche Bedeutung diese Einverleibung einer Persönlichkeit in
die andere für die Schicksale der einverleibten Persönlichkeit haben
wird ...? Hierbei kommt ja das ganze Leben mit seiner zahllosen Menge
uns unbekannter Verzweigungen in Betracht. Der beste Schachspieler,
auch der scharfsinnigste, kann nur einige Züge vorausberechnen; von
einem französischen Spieler, der zehn Züge vorausberechnen konnte,
wurde in den Zeitungen wie von einem Weltwunder berichtet. Wieviele
Züge aber und wieviel uns Unbekanntes gibt es in einem Menschenleben?
Indem Sie Ihr Samenkorn, Ihr Almosen, Ihre gute Tat in irgendeiner Form
ausstreuen, geben Sie einen Teil Ihrer Persönlichkeit weg und nehmen
einen Teil einer andern in sich auf; Sie verleiben sich wechselseitig
einer dem andern ein; es bedarf dann nur noch einiger Aufmerksamkeit,
und Sie werden sich durch eine schöne Erkenntnis und durch ganz
ungeahnte Entdeckungen belohnt sehen. Sie werden schließlich mit
Sicherheit Ihre Tätigkeit wie eine Wissenschaft betrachten; diese
Wissenschaft wird Ihr ganzes Leben in sich schließen und kann Ihr
ganzes Leben ausfüllen. Auf der andern Seite werden all Ihre Gedanken
und alle von Ihnen ausgestreuten Samenkörner, wenn Sie sie auch
vielleicht längst vergessen haben, sich verkörpern und wachsen; wer sie
von Ihnen empfangen hat, wird sie an einen andern weitergeben. Und wie
können Sie wissen, welchen Anteil Sie dadurch an der künftigen
Gestaltung der Schicksale der Menschheit haben werden? Wenn die
theoretische Erkenntnis und ein ganzes dieser Arbeit gewidmetes Leben
Sie schließlich dahin bringen, daß Sie imstande sind, ein gewaltiges
Samenkorn auszustreuen, der Welt einen gewaltigen Gedanken als Erbe zu
hinterlassen, dann ...‹ Und so weiter; ich redete damals noch viel über
diesen Gegenstand.
    ›Und wenn man dabei daran denken muß, daß gerade Ihnen ein solches
Leben nicht vergönnt ist!‹ rief Bachmutow im Ton eines erregten
Vorwurfs, der sich gegen irgend jemand richtete.
    In diesem Augenblick standen wir auf der Brücke, mit den Ellbogen
auf das Geländer gestützt, und blickten auf die Newa hinunter. ›Wissen
Sie, was mir eben durch den Kopf gegangen ist?‹ sagte ich, indem ich
mich noch weiter über das Geländer bog.
    ›Doch nicht, sich in das Wasser zu stürzen?‹ rief Bachmutow beinah
in Entsetzen. Vielleicht glaubte er, diesen Gedanken auf meinem Gesicht
gelesen zu haben.
    ›Nein, vorläufig nur eine Erwägung, nämlich diese: ich habe jetzt
noch zwei bis drei Monate zu leben, vielleicht vier; wenn ich aber zum
Beispiel nur noch zwei Monate übrig hätte und große Lust bekäme, ein
gutes Werk zu tun, das eine Menge Arbeit, Lauferei und Mühe erforderte,
in der Art wie die Angelegenheit unseres Arztes, so müßte ich in
solchem Fall aus Mangel an noch verfügbarer Zeit von dem betreffenden
Werk Abstand nehmen und mir ein kleineres, meinen Mitteln
entsprechendes Werk suchen (wenn es mich nun einmal so nach guten
Werken gelüstet). Geben Sie zu, daß das ein amüsanter Gedanke ist!‹
    Der arme Bachmutow war um mich sehr beunruhigt; er begleitete mich
ganz bis zu mir nach Hause und war so zartfühlend, daß er sich gar
nicht auf Tröstungsversuche einließ und fast immer

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