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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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schwieg. Als er von
mir Abschied nahm, drückte er mir warm die Hand und bat mich um die
Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen. Ich antwortete ihm, wenn er als
›Tröster‹ zu mir kommen wolle (und auch sein Schweigen würde diesen
selben Sinn haben; ich machte ihm das klar), so werde er mich ja
dadurch jedesmal erst recht an den Tod erinnern. Er zuckte die
Schultern, gab mir aber recht; wir schieden recht höflich voneinander,
was ich gar nicht erwartet hatte.
    Aber an diesem Abend und in dieser Nacht wurde das erste Samenkorn
meiner ›letzten Überzeugung‹ gesät. Eifrig erfaßte ich diesen neuen
Gedanken; eifrig durchdachte ich ihn in allen Einzelheiten und
Möglichkeiten (ich schlief die ganze Nacht nicht), und je mehr ich mich
in ihn vertiefte, je mehr ich ihn in meine Seele aufnahm, um so größer
wurde meine Angst. Sie wuchs schließlich zu furchtbarer Größe heran und
wich auch an den folgenden Tagen nicht von mir. Manchmal, wenn ich an
diese beständige Angst dachte, überlief es mich eiskalt infolge einer
neuen Angst: aus dieser Angst konnte ich ja schließen, daß meine
›letzte Überzeugung‹ in mir sehr fest Wurzel gefaßt hatte und mich
jedenfalls zur Ausführung drängen werde. Aber zur Ausführung fehlte es
mir an Entschlossenheit. Nach drei Wochen war dies alles zum Ende
gelangt, und die Entschlossenheit hatte sich eingestellt, aber infolge
eines sehr merkwürdigen Umstandes.
    Ich verzeichne hier in meiner Erklärung all diese Zeitangaben. Mir
kann das natürlich gleichgültig sein; aber jetzt (und vielleicht erst
in diesem Augenblick) hege ich den Wunsch, es möchten diejenigen, die
über meine Handlung ein Urteil fällen werden, klar erkennen, aus
welcher Kette logischer Schlüsse meine ›letzte Überzeugung‹ hervorging.
Ich habe im obigen soeben die Bemerkung hergeschrieben, daß die
endgültige Entschlossenheit, an der es mir zur Ausführung meiner
›letzten Überzeugung‹ gemangelt hatte, bei mir anscheinend gar nicht
aus einem logischen Schluß hervorging, sondern aus einem sonderbaren
äußeren Anstoß, aus einem sonderbaren, mit dem Gang der Sache selbst
vielleicht gar nicht in Zusammenhang stehenden Umstand. Vor zehn Tagen
kam Rogoschin zu mir, und zwar in einer ihn betreffenden Angelegenheit,
auf die hier näher einzugehen ich für überflüssig halte. Ich hatte
Rogoschin früher nie gesehen, aber sehr viel von ihm gehört. Ich gab
ihm alle nötigen Auskünfte, und er ging bald wieder weg; und da er nur
um dieser Auskünfte willen gekommen war, so hätte unser Verkehr damit
beendet sein können. Aber er hatte in hohem Grade mein Interesse
erregt, und ich befand mich diesen ganzen Tag über im Bann sonderbarer
Gedanken, so daß ich beschloß, am andern Tag zu ihm zu gehen und seinen
Besuch zu erwidern. Rogoschin war über mein Kommen offenbar nicht
erfreut und deutete sogar ›zart‹ an, wir hätten eigentlich keinen
Anlaß, unsere Bekanntschaft fortzusetzen; aber trotzdem verbrachte ich
eine sehr interessante Stunde, und wahrscheinlich auch er. Es war
zwischen uns ein solcher Gegensatz, daß er uns beiden notwendigerweise
auffallen mußte, namentlich mir: ich war ein Mensch, der schon die ihm
noch übrigen Lebenstage zählte, er aber überließ sich dem vollen,
unmittelbaren Lebensgenuß, dem Genuß des gegenwärtigen Augenblicks ohne
alle Sorge um die ›letzten‹ Ergebnisse, um zeitliche Daten oder um
irgend etwas, was nicht mit dem Gegenstand seiner ... seiner ... nun
meinetwegen seiner Verrücktheit zusammenhing; möge mir Herr Rogoschin
diesen Ausdruck verzeihen, meinetwegen als einem schlechten Stilisten,
der seine Gedanken nicht recht auszudrücken versteht. Trotz all seiner
Unliebenswürdigkeit schien es mir, daß er ein Mensch von gutem Verstand
sei und vieles begreifen könne, obgleich er für das, was ihn nicht
unmittelbar angeht, wenig Interesse hat. Ich machte ihm keine
Andeutungen über meine ›letzte Überzeugung‹; aber ich hatte aus einem
nicht recht verständlichen Grund den Eindruck, daß er sie erriet, indem
er mir zuhörte. Er schwieg meist; er ist sehr schweigsam. Beim
Fortgehen deutete ich ihm an, daß trotz aller zwischen uns bestehenden
Verschiedenheit und trotz aller Gegensätzlichkeit doch les extrêmités
se touchent (ich erklärte es ihm auf russisch), so daß vielleicht auch
er selbst von meiner ›letzten Überzeu gung‹ gar nicht so weit entfernt
sei, wie es scheine. Hierauf antwortete er mir mit einer sehr
mürrischen, sauren Grimasse, stand

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